Kawabata – zwischen Verdinglichung der Frau und Sehnsucht nach Resonanz – Salon-Ansprache vom 29. Februar 2020

Am 29. Februar hat Thomas Blubacher aus dem Roman „Die schlafenden Schönen“ von Yasunari Kawabata in meinem Salon vorgelesen. In dem folgenden Blogartikel können Sie meine Einführung in den Abend, nachträglich um einige Reflexionen aus der Salon-Diskussion ergänzt, nachlesen.

Text: Beata Sievi, Lesezeit 20 Min

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Es ist eine kalte Winternacht, Januar 1985. Die Wanduhr in der obskuren Mansarde in dem Warschauer Proletarierquartier Zoliboz zeigt zehn Minuten vor Mitternacht. Eine junge Frau, die vor einigen Monaten aus Danzig zu ihrem Psychologie-Studium hierher angereist war, liegt auf dem Bett und lauscht dem durch die Ritzen des undichten Fensters eindringenden Wind. Es ist, als würde sie regungslos ihre Einsamkeit betrachten. In die Stille der Winternacht drängt sich auf einmal ein Radiogeräusch. Die tiefe Stimme des Moderators kündigt eine Lesung aus japanischer Literatur an. „Die schlafenden Schönen“ – ein Roman des in Polen bereits bekannten Nobelpreisträgers Yasunari Kawabata, der soeben ins Polnische übersetzt wurde. Er sollte in zehnminutigen Abschnitten jeden Tag vor Mitternacht vorgelesen werden. Die Studentin horcht und hört – 10 Minuten Begegnung mit einer fremden Einsamkeit – als Remedium gegen das eigene Alleinsein. Dies war meine erste Begegnung mit dem Roman, den ich im Rahmen einer Salon-Lesung bereits zum zweiten Mal, einem breiteren Publikum vorstelle.

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Polnische Ausgaben der Kawabata`s Romane: „Die Stimme des Berges“ und „Die schlafenden Schönen“

Den geheimnisvollen Namen des Bücherautors Yasunari Kawabata hatte ich bereits als Mädchen in der Bibliothek meiner Pflege-Mutter entdeckt. Die poetischen Titel wie „Schneeland“, „Tausend Kraniche“ oder „Die Stimme des Berges“ weckten meine Neugierde und ich begann die Bücher zu lesen, noch bevor ich alle Zusammenhänge verstehen konnte. Dabei erlag ich der Magie altjapanischer Traditionen und Mythen, sowie Kawabatas origineller Sprache. Seine Protagonisten sind oft von tiefen Emotionen der Liebessehnsucht und der Trauer bewegt. Da ihre Dialoge oft nach Andeutungen verstummten, verlor ich mich in Vermutungen darüber, was zwischen den beschriebenen Personen wirklich vorgefallen oder nicht vorgefallen war. Insbesondere faszinierte mich die verschlüsselte Art, wie man sich in diesem Kulturkreis gegenseitig Zuneigung zeigte. So konnte sich die Liebe zum Beispiel im Muster des getragenen Kimonos oder in einem Riss der handgefertigten Teeschale offenbaren, wobei die verliebte Person nie sicher sein konnte, ob derart kodierte Botschaft überhaupt vom Gegenüber verstanden wurde. Meine Faszination von diesen zaghaften und scheuen Gefühlsäusserungen gründete – wie ich es erst heute erkenne – in einer Sehnsucht nach Nähe gepaart mit einer tiefen Angst vor Ablehnung, die ich mit dem Autor teilte.

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Muster eines festlichen Tomesode Kimonos aus den 70-er Jahren.

Schon früh war für mich die imaginative Aktivität, die erlaubt, Erfahrungen und Emotionen der fiktionalen Charaktere nachzuvollziehen sehr wichtig. Die Literatur ermöglichte mir oft eine «Quasi-Erfahrung» von Situationen und Begegnungen mit fremden Menschen. Ich lernte ihre Motive zu verstehen, sie wurden allmählich zu Vertrauten. Heute teile ich diese Erfahrung mit meinem Salon-Publikum, in der radikalen Überzeugung, dass uns die Literatur, mit ihrem Appel an die Fähigkeit der empathischen Perspektiven-Übernahme, in eine neue Art von Menschen verwandelt. Auch mit ihren künstlerischen Mitteln der Sprache und der Metaphern erweitert sie stets den Horizont unseres Vorstellungsvermögens.

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Muster eines festlichen Obis getragen zum Tomesode Kimono.

Die Sprache Kawabatas orientiert sich sowohl an der traditionellen japanischen Literatur als auch an den modernen Einflüssen des europäischen Expressionismus. Doch keiner seiner Romane erinnert so stark wie „Die schlafenden Schönen“ an eines der ersten und bedeutendsten Werke der japanischen Literatur, Genji monagatari. Dieser aus dem 11. Jahrhundert stammende Text handelt vom leuchtenden Prinzen Genji, der sein Leben lang die Schönheit der Frauen aus unterschiedlichen Perspektiven, in immer wieder fortgesetzten und in einander verschachtelten Erzählungen beschreibt. In einer dieser Geschichten, die den Titel „Glühwürmchen“ trägt, wird die Prinzessin Tamakazura von Genji in einer bewölkten Viertelmondnacht in ein Zimmer geführt, um den Prinzen Hotaru zu begrüssen, der sie zu sehen begehrt. Tanakazura und Hotaru befinden sich im selben Zimmer, jedoch sind sie durch eine Art Seidenvorhang getrennt. Die Prinzessin weiss daher nicht, dass der Prinz sie gerade in dem Augenblick durch einen Spalt beobachtet, in dem Genji hinter ihr einen Schwarm Glühwürmchen aus einem Tuch entlässt. „Der Prinz überlegte, wo sich die Prinzessin wohl aufhalte, und hatte das Gefühl, ihr ein wenig näher zu sein. Klopfenden Herzens spähte er durch einen Spalt des wundervollen, feinen Seidenvorhangs und sah ganz unerwartet in weniger als zwei Meter Entfernung ein Licht aufblitzen, in dem sich ihm ihre Schönheit zeigte.“

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Leuchtkäfer (Hotaru), Kono Bairei (1844-1895)

Die überraschende Schönheit einer Frau, die im roten Dämmerlicht des mit Samtvorhängen umhüllten Zimmers noch geheimnisvoller erscheint, ist auch ein wiederkehrendes Motiv in den „Schlafenden Schönen“. Auch hier wird die Schönheit der Frau erst durch einen männlichen Betrachter erkennbar und sie weckt das Begehren, doch bleibt die Frau selbst unzugänglich. Die emotionale Unerreichbarkeit – ein für Kawabata charakteristisches Thema – und die Neigung des Autors zur Melancholie sind keineswegs lediglich eine literarische Manier, sondern hängen zusammen mit den tragischen Lebensumständen, die ihn schon früh geprägt hatten.

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Yasunari Kawabata

1899 in Osaka in eine gut etablierte Arztfamilie, hineingeboren, war Yasunari bereits als Vierjähriger verwaist und lebte danach bei seinen Grosseltern. Im Alter von 5 Jahren verlor er jedoch seine Großmutter. Seine ältere Schwester, die er nur einmal sah, weil sie bei anderen Angehörigen aufgezogen wurde, starb, als er 10 Jahre alt war. Den Tod des Grossvaters erlebte er mit 15 und danach lebte er kurz bei der Familie seiner Mutter, um bald darauf in ein weit entlegenes Internat einzuziehen.

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Yasunari Kawabata, 1946

Diese biografischen Details erklären, weshalb in so vielen von Kawabatas Werken eine Trennungssituation und ein Gefühl der Distanz eingewoben sind. Seine Figuren erwecken oft den Eindruck, dass eine unsichtbare Mauer um sie herum aufgebaut ist. In einem 1934 veröffentlichten Werk schrieb Kawabata: „Ich habe das Gefühl, nie die Hand einer Frau im romantischen Sinne gehalten zu haben[…] Bin ich ein glücklicher Mann, der doch Mitleid verdient?“. Ein unveröffentlichter Eintrag aus Kawabatas Tagebuch zeugt von einer besonders schmerzhaften Liebensgeschichte, die er im Alter vom 20 Jahren erlebte: Seine geliebte Hatsuyo Ito, wurde von einem Mönch in einem Tempel vergewaltigt, was sie dazu veranlasste, ihre Verlobung mit Yasunari zu brechen. Auch wenn er später Beziehungen mit Frauen einging und heiratete, – und ein erfolgreicher und über die Grenzen Japans gefeierter Autor wurde – 1968 erhielt Kawabata den Nobelpreis für Literatur – empfand er lebenslang eine tiefe emotionale Unsicherheit. 1972 setze er seinem Leben selbst ein Ende. Da er keine Botschaft hinterliess, kann über die möglichen Gründe für den Selbstmord nur spekuliert werden. Seine Biographen betonen die tiefe Trauer, die der Selbstmord seines Schriftsteller- Freundes Yukio Mishima bei ihm auslöste. Zweihundert Nächte hintereinander sollte Kawabata Albträume über Mishima gehabt haben und fühlte sich vom Geist des Verstorbenen verfolgt. In diesem Gemütszustand teilte Kawabata öfters seinen Freunden mit, dass er auf einer Reise manchmal hoffte, durch einen Flugzeugabsturz umzukommen.

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Nobelpreis Verleihung 1968

Die Auseinandersetzung mit Tod und Vergänglichkeit sind zentrale Motive in den „Schlafenden Schönen“. «Ein alter Mann ist nun mal ein Nachbar des Todes», offenbart Eguchi, Protagonist des Romans und sehnt sich danach, neben einer jungen Frau im geheimen Haus der schlafenden Schönen zu sterben. Das Haus ist nur für ältere Männer bestimmt und bietet junge Frauen im Tiefschlaf an. Eguchi verbringt dort mehrere Nächte neben immer anderen jungen Frauen und Mädchen. Eine zunächst für den Leser verstörende Idee?

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Bijinja von einem modernen Künstler Yasunari Ikenaga

Schlaf ist eine intime Angelegenheit; je tiefer er wird, umso mehr verlieren wir die Kontrolle, sind möglicherweise Blicken und Handlungen anderer, Nichtschlafender, ausgeliefert und wollen uns darauf verlassen, dass diese Asymmetrie nicht ausgenutzt wird. Indessen sind die Regeln des seltsamen Hauses, den wir im Roman kennenlernen, zwar vorgegeben, doch bleibt deren Auslegung letzten Endes den unbeaufsichtigten Besucher überlassen. Gleichermassen von der Sinnlichkeit tief Schlafenden und gänzlich verfügbaren Frauenkörper angezogen, wie von dem für die alten Männer beschämenden Arrangement, diesem „senilen Spiel“, wie er es nennt, abgestossen, sucht Eguchi dennoch in immer kürzeren Zeitabständen das Haus der schlafenden Schönen auf. Was veranlasst ihn, den in Liebesdingen höchst Erfahrenen dazu, immer wieder zurückzukehren? Was genau ist sein Begehren? Ist es nur der Wunsch, sich im Alter noch einmal an jungen Körpern zu erfreuen, ohne dabei in Gefahr einer Demütigung zu laufen?

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Shunga, Utamaro

Was aus Neugier auf einen sinnlichen Genuss für einige Stunden beginnt, lässt den alten Mann unaufhaltsam in ein experimentelles Begehren geraten. Es stellt sich schnell heraus, dass jede Frau andere Phantasien und andere Erinnerungen in ihm lebendig werden lässt. Die Gedanken an Frauen, die Eguchi in seinem Leben gekannt hat – die eigene Ehefrau, die Töchter, mehrere Geliebten, Prostituierten und Bekanntschaften einer Nacht – entfalten sich in weiten Assoziations-ketten, in denen Eguchi sich als Vater, Ehemann, Geliebter und Liebender in verschiedene Lebensphasen zurückversetzt sieht. Erst mit der Einnahme des bereitliegenden Schlafmittels kann er den oft schuldbeladenen Reflexionen jeweils ein Ende setzen.
Nicht herrscht hier also der alte, das Vergnügen suchende Mann, wie es anfangs aussieht, sondern die narkotisierten Frauen scheinen mehr und mehr über ihn zu verfügen. Dabei entfaltet ihre Schönheit eine höhere Macht über den Betrachter aus und bestätigt, was der englische Philosoph George Scruton in seinem Film „Why beauty matters“ sagt: „In der individuellen Wahrnehmung besitzt das Schöne stets eine überzeugende Kraft, der wir uns nicht entziehen können. Es spricht zu uns direkt wie die Stimme eines intimen Freundes“. Beim Eguchi wirkt die Begegnung mit der weiblichen Sinnlichkeit zuweilen wie ein schmerzvoller Stachel und lässt ihn zwischen dem Besitzwunsch und der Sehnsucht nach tiefer emotionaler Bindung schwanken. Selbst im tiefsten Schlaf spielen die jungen Frauen ihr ganz unterschiedliches Aussehen, ihren spezifischen Geruch und individuelles Gebaren, ihre eigenen Möglichkeiten aus und zwingen ihn, den versierten Liebhaber, sowohl seine Angst vor dem Verlust der sexuellen Potenz wahrzunehmen als auch sich mit dem lang Verschütteten, dem nicht Geklärten und nicht Eingestandenen auseinanderzusetzten.

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Shunga, Utamaro

Es ist ein psychoanalytisch anmutender Prozess, und oft eine qualvolle Seelenarbeit. Bei manchem Leser mag dieser psychische Schmerz eine allfällige moralische Empörung mildern. Die anderen werden an der Selbstverständlichkeit, mit welcher Kawabata die erotischen Verhältnisse innerhalb einer ausdrücklich patriarchalen Kultur darstellt, eher als befremdend empfinden. In ihrem Essay „Verdinglichung“ nennt die Philosophin Martha Nussbaum sieben Möglichkeiten, eine Person als Ding zu behandeln: Instrumentalisierung, Trägheit, Austauschbarkeit, Besitzverhältnisse, Leugnung der Autonomie, Negierung der Verletzbarkeit und der Subjektivität. Auch wenn das Haus der schlafenden Schönen – sollen wir ihn für einen Augenblick als eine reale Einrichtung betrachten – die meisten diesen Bedingung erfüllt und kritisch betrachtet werden muss, scheint der Protagonist, der diese Einrichtung in Anspruch nimmt, gerade von dem Wunsch getrieben zu sein mit den angebotenen Frauen in reziproken Kontakt zu treten und ihre Individualität und Handlungsfähigkeit zu erleben.

Vielleicht sollten wir den Roman von Kawabata als eine Parabel für eine Kultur betrachten, in welcher sich die Männer nach der erotischen Resonanz und Authentizität der Frauen sehnen, ohne zu erkennen, wie sie mit ihrem für Patriarchat charakteristischem Habitus, die Frauen ihrer erotischen Subjektivität berauben? In eine von diesen Widersprüchen geprägte Kultur wurde auch ich hineingeboren und auch mir erschien in meiner Jugend die Schönheit und Verführungskraft als eine Möglichkeit der Machtausübung. Wer sich dieser Macht allein verschreibt, wird der Konfrontation mit ihrer Fragilität und Vergänglichkeit nicht entkommen.

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„Wahre Schönheit“, Chikanobu Toyohara

 

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