Eine Reflexion über Vergänglichkeit, Beständigkeit und die Kraft des Moments.
Die Mitte des Lebens deutlich überschritten, der Vergänglichkeit eigener Kräfte bewusst, sehe ich ein, dass die Zeiten des Mutes und der Wagnisse hinter mir liegen. Gleichzeitig erlebe ich, wie die Suche nach Sicherheit zu Kompromissen führt, die sich als leer erweisen. Die Zukunft erscheint mir immer mehr ungewiss, unverfügbar, voller Verluste, die unabwendbar sind. Immer dringlicher stelle ich mir die Frage, was inmitten all dessen Bestand haben kann.
Die Suche nach Beständigkeit
Eine Antwort schien mir kürzlich auf einer einsamen Bergwanderung in die Hände zu fallen – in Gestalt eines kleinen, unscheinbaren Büchleins mit dem Titel Der schöne Augenblick. Darin stiess ich auf die Verse von Andreas Gryphius, die mich seitdem nicht mehr losgelassen haben:
„Mein sind die Jahre nicht,
die mir die Zeit genommen;
mein sind die Jahre nicht,
die etwa möchten kommen.
Der Augenblick ist mein,
und nehm’ ich den in acht,
so ist der mein, der Jahr
und Ewigkeit gemacht.“
In ihrer Schlichtheit und Wucht schienen mir die Worte einen Kern meiner Lage zu berühren: Nur der Augenblick gehört uns! Doch kann er auch ein Antidot gegen jene Melancholie sein, die aus Fremdbestimmung und Verlusten erwächst, während die Vergänglichkeit sich wie ein stiller Schatten über alles legt? So begann ich, den „schönen Augenblick“ genauer zu untersuchen:
- Welche Momente nähren uns wirklich?
- Gibt es besondere Augenblicke, die uns ein ganzes Leben lang tragen?
- Werden sie uns geschenkt, oder können wir sie bewusst herbeiführen und kultivieren?
- Was meinte Goethe, wenn er davon sprach, der Mensch könne dem Augenblick Dauer verleihen?
Sind wir dazu angehalten, Erinnerungen sorgsam zu pflegen, oder geht es eher um einen Versuch, mit wacher Aufmerksamkeit im Moment zu verweilen? Oder liegt gerade darin gar die Gefahr, festhalten zu wollen, was sich unserer Kontrolle entzieht?

Augenblick, der entgleitet
Schon früh faszinierte mich Marcel Proust, und noch heute kehre ich oft zu seinem Werk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zurück. Seine Schilderungen flüchtiger Augenblicke, stets an der Grenze zur Erfüllung, machten mir das Paradoxe bewusst: Je unerreichbarer oder vergänglicher etwas ist, wonach wir uns sehnen, desto intensiver erscheint es uns – auch wenn es sich der Dauer entzieht.
Proust stellt dabei eine unbequeme Frage, die bis heute nachhallt: Warum erscheint uns nicht das ganze Leben als kostbares Geschenk, da wir doch alle beständig vom Tod bedroht sind?

Spazieren muss ich unbedingt
In ihrem Buch Lebensmitte. Anleitung zum Erwachsenwerden spürt Barbara Bleisch der Melancholie der zweiten Lebenshälfte nach. Sie unterscheidet zwischen Augenblicken, die als Krönung eines langen Strebens eintreten und oft nur ein kurzfristiges Erfolgsgefühl mit sich bringen, und jenen, die sich ausschliesslich in nicht-zweckgebundenen Tätigkeiten finden lassen – nicht als Ergebnis eines Zieles, sondern aus sich selbst heraus leuchtend. Philosophisch spricht man hier von telischen – auf ein Ende hin ausgerichtet – und atelischen Tätigkeiten, die um ihrer selbst willen geschehen. Vielleicht sind es gerade letztere, die den Augenblick besonders zum Strahlen bringen – und die in unserer leistungsorientierten Gesellschaft am meisten fehlen?
Robert Walser hat diesen Typus des Augenblicks wie kaum ein anderer kultiviert und in seiner Prosa festgehalten. Seine täglichen Spaziergänge ebenso wie lange Gewaltmärsche zwischen Bern und Zürich boten ihm stets Gelegenheit, die scheinbar zwecklose Bewegung, einen freundlichen Gruss auf dem Weg oder den Blick auf eine Blume als unvergleichliche Fülle des Lebens zu geniessen.
„Der Spaziergang ist immer eine Art von beglückendem Exil; er reisst mich hinweg von mir selbst und gibt mich einer freundlichen, spielenden Welt hin.“

Das Staunen und der glanzvolle Augenblick
Auch die moderne Psychologie betont, wie wesentlich die glanzvollen Augenblicke sind. In seinem Buch Awe in Everyday Life widmet sich der Psychologe Dacher Keltner dem Moment des ehrfürchtigen Staunens – einer komplexen Emotion, die Elemente der Bewunderung, Hingabe und Überraschung vereint. Sie verweist uns angesichts gewaltiger Kräfte auf etwas ausserhalb unserer selbst und verbindet uns zugleich mit anderen Menschen. Keltners Forschung nach lässt sich Awe, das uns zutiefst berühren und uns Gänsehaut bescheren kann, auf acht Quellen zurückführen, die er als „Acht Weltwunder“ bezeichnet:
- ethische Grösse und Schönheit
- aussergewöhnliche Naturerfahrungen
- Kunst und Musik
- synchronisierte gemeinschaftliche Bewegungen
- spirituelle Erlebnisse
- Schwellenmomente von Geburt und Tod
- überraschende und bahnbrechende Ideen und Einsichten
- Erfahrungen von Weite – sei es Landschaft, Architektur oder der Sternenhimmel
Ohne solche Momente des bewundernden Staunens, die uns als Individuum mit grösseren Kräften verbinden, so Keltners Quintessenz, kann kein Mensch auf Dauer glücklich sein.

Augenblick der Verbundenheit
Doch während Natur, Kunst oder das Staunen über die Weite des Himmels den Augenblick erhellen, frage ich mich zugleich, wie es um die menschlichen Augenblicke bestellt ist – jene der Freundschaft und der Liebe. Sie sind vielleicht die kostbarsten, aber auch die vergänglichsten. In der Literatur begegnen sie uns in unterschiedlichen Gestalten: als Erinnerung, die mit aller Kraft bewahrt wird, oder als Vergessen, das uns schmerzlich bewusst macht, wie flüchtig Nähe ist. Sie lassen die Sinnlichkeit des Augenblicks besonders deutlich hervortreten – und zugleich ihre Vergänglichkeit.

So verdichtet sich meine Spurensuche: Der Augenblick ist kein blosses Nebenprodukt, sondern ein existenzieller Ort – zwischen Fülle und Verlust, zwischen Erfüllung und Entgleiten.Vielleicht liegt in seiner Wahrnehmung das einzige zarte Gegengewicht zu Vergänglichkeit und Endlichkeit.
Diese Gedanken möchte ich im nächsten Salon Der schöne Augenblick am 30. November 2025 zur Diskussion stellen. Begleitet wird der Abend von Lesungen ausgewählter Texte durch den Schauspieler Antonio da Silva. Der Eintritt beträgt CHF 65.- inklusive Verpflegung. Die Plätze sind bereits vergeben, es besteht jedoch eine Warteliste (Mail an: salon@beatasievi.ch).
Literaturhinweise für Interessierte:
- Andreas Gryphius: Der schöne Augenblick. Lektüre zwischen den Jahren. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2019.
- Barbara Bleisch: Lebensmitte. Über die Kunst, erwachsen zu werden. Piper, München 2022.
- Dacher Keltner: Awe. The New Science of Everyday Wonder and How It Can Transform Your Life. Penguin Press, New York 2023.
- Robert Walser: Der Spazieren muss ich unbedingt. Vom Gehen über Stadt und land. Insel Verlag, Berlin, 2024
- Antoine de Saint-Exupéry: Nachtflug. Gallimard, Paris 1931; dt. u. a. im Fischer Verlag.
- Marcel Proust: Im Schatten junger Mädchenblüte. Zweiter Band von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. In der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens, Suhrkamp Verlag, 1995.
