Schlagwort: Ghosting

Ghosting oder über die Notwendigkeit einer Abschiedskultur

Text: Beata Sievi, Lesezeit ca.30 Min.

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„Im Schmerz der Trennung ist das Bewusstsein von der Zerbrechlichkeit aller Beziehungen enthalten, das Bewusstsein von der Vorläufigkeit allen Erlebens und Teilens, allen Versprechens und Hoffens. Es ist ein Bewusstsein, ein ganz unsentimentales, einer letzten Einsamkeit. Würde ist eine Art, diese schmerzliche Erfahrung gut zu bestehen. Worauf kommt es dabei an?“

Peter Bieri

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Eine unerwünschte Trennung ist eine schmerzhafte Erfahrung. Sie bedeutet das Ende der Hoffnung, die wir in eine Beziehung und in einen Menschen gelegt hatten. Sie ruft das Gefühl einer existenziellen Einsamkeit hervor. Unter allen Formen der Entzweiung gibt es aber eine, die mehr Schmerz bereitet als alle anderen. Diese Art der Trennung verletzt unsere Würde. In der heutigen Beziehungskultur kommt sie so häufig vor, dass sie 2015 unter dem Begriff Ghosting ins Wörterbuch Collins und in die deutschsprachige Wikipedia aufgenommen wurde.
Ghosting bedeutet ein unerwarteter vollständiger Kontaktabbruch ohne Ankündigung. Es setzt einer intimen Beziehung, einer Freundschaft oder einem Flirt ein Ende – durch Funkstille. Kennzeichnend dabei ist die wortlose Verweigerung jeglicher Erklärung.
Der englische Begriff, der so viel wie «vergeistern» bedeutet, verharmlost das grosse psychische Leid, das dieses Verhalten bei den Verlassenen verursacht. Beschrieben wird Ghosting bis anhin vor allem aus der psychologischen Perspektive. Insofern es immer mehr um sich greift, haben wir es aber mit einem gesellschaftlichen Problem zu tun, und ich will es deshalb auch aus einer moralphilosophischen Perspektive betrachten.

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Vom psychischen Leid schweigend Verlassener

Die Autorin Anne Witschorek, die selbst mit Ghosting konfrontiert wurde, behauptet, dass die Gewalt, welche die verlassene Person bei dieser Art der Trennung erlebt, nicht weniger stark ist, als wenn sie aus einem fahrenden Auto hinausgeworfen würde – «ohne Vorankündigung, auf gerader Strecke, ohne Tempolimit, bei Vollgas».
Niedergeschlagenheit, Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafstörungen, Depressionen und Suizidversuche – das Leid der Trennung lastet auf Menschen, die von Ghosting betroffen wurden, schwerer und länger als bei allen anderen Formen unerwünschter Trennungen. Die Verlassenen machen sich zunächst grosse Sorgen, dass dem Partner etwas Schreckliches zugestossen sein könnte. Später, wenn klar wird, dass die Funkstille beabsichtigt ist, setzen die Spekulationen über die eigene Mitverantwortung am Geschehen ein. Irgendwann machen sich Verwirrung und Hilflosigkeit breit. Die Gehirnforschung erklärt die Symptome, die bei den Opfern des Ghostings auftreten, mit der Überaktivierung des „Social monitoring systems“. Dieses versucht, den massiven Stress, der durch den unerwarteten Kontaktabbruch ausgelöst wird, zu bewältigen und sucht die Umgebung und das Gedächtnis ununterbrochen nach möglichen Deutungen ab. Das einzige aber, was die verlassene Person in dieser Lage wirklich beruhigen könnte, ist die Erklärung, die vom anderen kommt. Erhält sie eine solche nicht, bleibt das Gehirn ruhelos. Die italienischen NeurowissenschaftlerInnen Giovanni Novembre, Marco Zanon und Giorgia Silani haben nachgewiesen, dass die Ablehnung und das soziale Ausgestossensein im Gehirn die gleichen Regionen aktivieren wie der körperliche Schmerz. Ghosting kann daher einen emotionalen Schaden verursachen, der dem körperlichen Missbrauch ähnelt.

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Ohnmacht und Demütigung

Was psychologisch als Zustand von Stress und Desorientierung beschrieben wird, bezeichnet der Philosoph Peter Bieri als Ohnmacht und Demütigung. «Jede Situation, in der uns Informationen fehlen, um uns zurechtzufinden, ist mit der Erfahrung der Ohnmacht verbunden», schreibt er in seinem Buch «Eine Art zu leben. Über die Vielfalt der menschlichen Würde». Wenn die Informationen nicht aufgrund eines Schicksalsschlags ausbleiben, sondern willent-lich vorenthalten werden, wird ein Mensch erst recht gedemütigt. Mit einer solchen Form der Demütigung haben wir im schweigenden Beziehungsabbruch zu tun. Er verletzt die Würde. Insbesondere dann, wenn sich der verschwundene Mensch dem Schmerz der verlassenen Person gegenüber gleichgültig stellt, und den Bitten um ein Gespräch oder eine klärende Nachricht mit einer erbarmungslosen Stille begegnet, und damit jegliche Abhilfe verweigert.
Um aus dieser demütigenden Situation herauszukommen, unternehmen die Ghosting-Opfer alles Erdenkliche. Auch wenn Aussenstehende davon abraten, suchen einige die persönliche Konfrontation, das einzige, was ihr Leid lindern könnte. Die Geschichten über die mutigen und originellen Einfälle, die darauf abzielen, die oder den anderen zum Reden zu bringen, könnten Bände füllen. Doch in einem unbegreiflichen Stupor gefangen, bleiben die Täter resistent gegen jeden noch so verzweifelten Mitleid-Appel. Erzwingt die verlassene Person doch eine Begegnung, wird sie wahrscheinlich ein erniedrigendes Schauspiel ertragen müssen. Gut möglich, dass sie als unbekannter Eindringling behandelt wird oder ihr die Türe wortlos vor dem Gesicht zugeschlagen wird. Die meisten Verlassenen ahnen die verletzenden Szenarien voraus und stellen ihr Bedürfnis nach Sicherheit in den Vordergrund. Sie verzichten deshalb auf das Suchen einer letzten Begegnung – und auf mögliche weitere Würde-Verletzungen.

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Ghosting als Verletzung der Würde

Die Würde gehört zu den höchsten Gütern des Menschen. Peter Bieri beschreibt sie als eine bestimmte Art, das menschliche Leben zu leben und als ein reziprokes Phänomen. Einerseits erhebt Würde den Anspruch, von anderen auf eine bestimmte Art und Weise behandelt zu werden, andererseits verpflichtet sie einen selbst, anderen Menschen gegenüber ebenfalls zu einer bestimmten Haltung.
Auch in intimen Beziehungen und in der Situation der Trennung gilt es gegenseitig auf die Würde zu achten, betont Bieri. Dies bedeutet zweierlei. Einerseits sind beide Partner einer Beziehung stets dazu angehalten, die Freiheit des anderen zu respektieren, selbst dann, wenn die persönliche Entwicklung darin mündet, dass eine Trennung notwendig scheint. Die Person, die gehen möchte, kann ihre Würde nur wahren, wenn die andere sie gehen lässt. Anderseits ist sie selbst dazu verpflichtet, ihren Abschiedswillen zu kommunizieren und zu begründen. Sie muss rechtfertigen, was sie tut, denn die Folgen ihres Tuns betreffen nicht nur sie selbst. Ohne diese Rechtfertigung wird nicht nur die Würde, sondern auch die Subjektivität des Partners in Frage gestellt. Deshalb empfinden die Verlassenen eine schweigende Trennung als eine Vernichtung und erleben sie, vor allem wenn es sich um langjährige Beziehungen handelt, als seelischen Mord.

Der weitere zentrale Aspekt einer würdevollen Trennung ist, nach Bieri, die gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung: «Anerkennung ist eine manifestierte Einstellung, die den anderen erreicht». Das Loslassen, ist erst möglich, wenn man sich im Moment des Abschieds klar und unmissverständlich für das gemeinsam Erlebte bedankt. Auch ein Konflikt entbindet uns nicht von der Verpflichtung, rückblickend das Gute, ohne das keine Begegnung stattgefunden hätte, wahrzunehmen. Es ist die bewusste Verweigerung der Anerkennung der wertvollen Momente, die Ghosting so schwer erträglich macht. Wer eine Beziehung wortlos abbricht, behandelt alles als «nicht der Rede wert» – nicht nur die Gegenwart und die Zukunft, sondern auch die gemeinsame Vergangenheit.

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Die Beziehungskultur der Ambivalenz und Unverbindlichkeit

Ghosting befindet sich am Ende eines grossen Spektrums ambivalenten Beziehungsverhaltens, dessen Schattierungen in der gegenwärtigen Dating-Kultur alle unter eigenständigen Begriffen bekannt sind: breadcrumbling – „mit Brotkrümeln füttern“ – bedeutet, jemandem unverbindliche, schmeichelnde Nachrichten zu senden oder auf eine andere Art gerade so viel Aufmerksamkeit zu schenken, dass er oder sie interessiert und in Bereitschaft bleibt. Es ist eine bewusste Strategie, die oft in mehreren Beziehungen gleichzeitig eingesetzt wird, mit lediglich dem Ziel, die eigene Anziehungskraft zu prüfen. Das Verhalten ist stark mit simmering verwandt, wo eine Person auf „einer kleinen Flamme warmgehalten“ wird, als Option, falls andere Bekanntschaften nicht einschlagen. Noch konfuser ist das benching und icing, wo der Kontakt zwar für immer längere Zeiten ohne richtige Grundangabe „eingefroren“, doch nie ganz abgebrochen wird.
Diese Phänomene, die allesamt auf ein Empathie-Defizit und auf die Abwesenheit von Skrupeln beim Anwenden von Täuschungsstrategien hindeuten, subsumiert die bekannte Paartherapeutin Esther Perel unter dem Begriff „stabile Ambiguität“ und sie beklagt sowohl die ambivalente Bindungs-Disposition als auch das schwache ethische Rückgrat der Millenium-Generation. Andere machen lediglich die Verbreitung der digitalen Technik für den Wandel der Beziehungs- und Abschiedskultur verantwortlich. In der Tat simulieren die Online-Kennenlern-Plattformen und Chat-Dienste einerseits schnell eine soziale Verbundenheit, machen aber andrerseits den Rückzug aus einer Bekanntschaft sehr einfach, wie z.B bei dem populären „Tinder“ durch das „Wegwischen“. Die Statistiken sind mitunter beunruhigend. 2014 berichteten in einer US-Onlineumfrage 13 % der Befragten über Ghosting-Erfahrungen, wobei das häufigste Auftreten in der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen zu beobachten war. 2018 wurden laut Angaben in „Aio“, dem deutschen Magazin für die mobile Zukunft, bereits bis zu 80 % der Nutzenden der Dating-Portale Opfer von Ghosting. Detaillierte Recherchen über den Anstieg von schweigendem Abbruch von Langzeit-Beziehungen sind erst im Gange. Pionierarbeit geleistet hat diesbezüglich in dem deutschsprachigen Raum Tina Solimann mit ihren beiden Büchern „Funkstille“ und „Sturm vor der Stille“. Die zahlreichen Abbruchgeschichten und die enorme Resonanz, die die beiden Bücher ausgelöst haben, zeigen, dass Ghosting ein breites kulturelles Problem darstellt.

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Unethische Motive im Dating

Oft wird argumentiert, dass die sinnlichen Begegnungen in der Dating-Kultur von heute von vornherein nicht auf Dauer angelegt seien, weshalb weder das Vortäuschen von Ehrlichkeit noch ein abrupter Abbruch moralisch angreifbar seien. Doch diese Argumentation ist nicht schlüssig, zumal die inneren Haltungen, mit welchen Menschen einander auf der Partnersuche begegnen, meistes nicht explizit kommuniziert werden. Oft werden das Wohlwollen und Vertrauen der einen von den anderen bewusst und einseitig genutzt.
In einem Interview von Jo Sales für Vanity Fair 2015 geben junge Männer zu, im Dating oft unehrlich zu sein, weil ihnen das Vortäuschen von romantischen Gefühlen und  von Interesse an einer dauerhaften Beziehung mehr sexuelle Erlebnisse ermöglicht, als wenn sie die ausschliessliche Zweckorientierung in den Kontakten offenlegen würden. Diese Männer neigen dann auch dazu, sich aus den Begegnungen zu „vergeistern“. In seinem Buch „Der Sympathie-Schalter“ berichtet der ehemalige FBI Agent Jack Schäfer, dass in seinem Seminar, das ursprünglich für Geheimdienstoffziere konzipiert wurde, auch unerwartet Studenten aufgetaucht sind, weil es sich herumgesprochen hatte, dass die von ihm gelehrten Manipulations-Techniken einen verblüffenden Erfolg im Dating-Game zeitigen. Stellen wir uns vor, was geschieht, wenn ein vom FBI geschulter Verführer auf eine Frau trifft, die auf die althergebrachte Praxis des Vertrauens baut und in der Online-Plattform nach einem Kandidaten für eine feste Beziehung sucht. Das immer häufigere Zusammentreffen von Menschen mit so unterschiedlichen Motivationen, in einem Begegnungsraum, der über keine ethischen Normen verfügt, hinterlässt die Akteure zunehmend verwirrt und im Ungewissen.

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Gesellschaftlicher Umgang mit schweigendem Beziehungsabbruch

Das unethische Verhalten in Liebesdingen ist zwar im digitalen Zeitalter einfacher und verbreiteter als früher, aber neu ist es nicht. In dem 1782 erschienenen Roman «Gefährliche Liebschaften» von Pierre-Ambroise-François Choderlos de Laclos etwa treiben zwei prototypische Figuren, ein altadeliger Vicomte und eine altadelige Marquise, das Spiel mit der Vortäuschung der Liebe so weit, dass es mit dem Tod endet. Auch der unangekündigte Kontakt-abbruch war schon lange vor dem Internetzeitalter bekannt. Im 19. Jahrhundert gab es Männer, die Frauen mit Eheversprechungen lockten, ihre «Unschuld raubten» und spurlos verschwanden. Später wurden die verlockenden Versprechungen anders – es ging mehr um Liebe als um die Ehe, aber auch diese Bündnisse wurden von einigen schweigend verlassen. Viele Frauen von heute erinnern sich an einen Jugendfreund oder Liebhaber, der sich auf einmal weder durch Briefe noch Telefonate erreichen liess. Ihr Schmerz ist selbst nach vielen Jahren lebendig.

Auch in Scheidungen sind die Kommunikationsverweigerung und emotionelle Härte gut bekannt, so dass die Vermutung nahe liegt, dass einige Scheidende auch ganz ohne Wort gehen würden, wenn sie nicht durch Nachkommen und materielle Güter gebunden wären.
Sich einer Situation zu stellen, wenn das Interesse an dem gemeinsamen Weg mit dem anderen Menschen erschöpft ist, stellt eine Herausforderung dar. Der schweigende Rückzug scheint etwas mit dem Unwillen zu tun zu haben, diese Herausforderung anzunehmen. Doch ist die Bereitschaft zu einer persönlichen Aussprache, auch im Falle einer Kränkung oder Überforderung, ein Gradmesser für die Fähigkeit, sich in sozialen Beziehungen verantwortlich zu verhalten – und somit eine Charakterfrage.

Welche Charaktereigenschaften bei einem Menschen gefördert werden, hängt wesentlich von der Kultur ab, in welcher er aufwächst, und die seine Sozialisation mitbestimmt. Es ist aufschlussreich zu vergleichen, welche soziale Kompetenzen in unserer Gesellschaft in verschiedenen Epochen gefördert wurden und wie man mit dem Phänomen des unerwarteten schweigenden Kontaktabbruchs umgegangen ist.

Über den Verführungskult im 19 Jh. – das Veranlassen eines einvernehmlichen Geschlechtsverkehres durch falsches Versprechen und anschliessende Flucht – wurde damals eine breite öffentliche Debatte geführt. In seinem Buch „Lust und Freiheit“ erwähnt der britische Historiker Faramarz Dabhoiwala zahlreiche Theateraufführungen, Romane und Presseartikel, die der allgemeinen gesellschaftlichen Empörung Rechnung trugen. Als Massnahme gegen die unfairen Verführer wurde in England sogar eine Geldstrafe in Erwägung gezogen. Die Namen der arglistigen Männer gab man unter den Bekannten weiter, und die Männer wurden der sozialen Ächtung ausgesetzt. Heute hingegen steht die Reputation eines Ghosts kaum auf dem Spiel, zumal die unmittelbare Umgebung selten etwas von seinem Treiben erfährt. Oder aber sie zieht es vor, sich nicht einzumischen, um mit dem Täter eine gute Beziehung zu wahren. Vor dem Hintergrund der allgemein akzeptierten Kultur der Unverbindlichkeit ist es auch viel schwerer, den Vertrauensmissbrauch als solchen klar zu sehen.

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Psychologie des Ghostings – Charakter- oder Persönlichkeitsstörung?

Alleingelassen suchen die Opfer nach einer Abhilfe in den Online Foren oder in der psychologischen Fachliteratur. Letztere betrachtet den schweigenden Beziehungsabbruch als eine passiv-aggressive Form des emotionalen Missbrauchs und spricht von Grausamkeit. Oft wird im Zusammenhang mit Ghosting die narzisstische Persönlichkeitsstörung erwähnt. Narzissten, die sich durch einen strukturellen Empathie-Mangel auszeichnen, brechen oft die Beziehungen ab, in der sie zu wahrer Reziprozität aufgefordert werden. Da sie sich durch eine solche Aufforderung gekränkt fühlen, dient das Schweigen zudem der Vergeltung. Die Kränkung stellt hier einen Mischzustand dar aus den Gefühlen von Scham, Ärger und Wut, sowie Angst vor dem Kontrollverlust. Da diese Emotionen nicht angemessen reguliert werden können, benötigen die Narzissten eine interaktionale Handlung, wie Ghosting, die ihnen ein Gefühl von Dominanz und Kontrolle wiedergibt. Darüber ob ein solches maladaptives Verhaltensmuster mit einem mangelndem Selbstwertgefühl und einer frühkindlichen emotionalen Deprivation erklärt werden kann, oder ob es sich eher um überzogenes grandioses Selbst und – als zentrale biografische Ursache – um den Mangel an Grenzen und der angemessenen Einordnung in die soziale Gruppe handelt, streitet sich derzeit die Fachwelt. Damit ist den Opfern von Ghosting, sofern sie sich in die Fachliteratur vertiefen, auch keine wirkliche Orientierung geboten.

Hilfreich können dennoch die Überlegungen des amerikanischen Psychiaters und Charakter-Coachs George Simon sein, der anstelle des Begriffs Persönlichkeitsstörung die Bezeichnung Charakterstörung verwendet. Die Neigung, persönliche Ziele auch ohne Rücksicht auf die Gefühle der anderen durchzusetzen, entfaltet sich, seiner Meinung nach, auch bei Menschen, die eine intakte Kindheit hatten. Sie hängt nicht so sehr mit emotionalen Vernachlässigungen oder Traumatisierungen zusammen, sondern mit der misslungenen Formung des Charakters. Dieser wird als eine geglückte Verbindung von der Fähigkeit zur ethisch-moralischen Schlussfolgerung, der Motivation diese Umzusetzen und der dazu notwendigen Impulskontrolle verstanden. Die sensible Phase liegt zwar im Alter von 6-12 Jahren, doch ist die Charakterbildung, laut Simon, „ein lebenslanger Prozess, in dem wir Selbstdisziplin und Fähigkeit entfalten zusammen mit anderen Menschen verantwortungsvoll zu leben“. Angefragt, wie er Ghosting versteht, antwortete der amerikanische Psychiater, dass er dieses Verhalten nicht als passiv betrachtet und es definitiv zu dem Spektrum der Charakterstörungen zählt. Das Fehlen ethischer Normen in den Beziehungen, wie wir sie in der heutigen Dating-Kultur vermehrt erleben, fördere zusätzlich solche Phänomene.

Wenn der 28-jährigen Musiker, der im Interview mit Susi Coen im Independet 2015 ohne jegliche Scham bekennt, mehrere Frauen ohne Ankündigung und Erklärung verlassen zu haben, und sagt: «Ich bin einfach irgendwie faul. Wenn ich die Frauen danach ignoriere, belastet es mich weniger“, dann bestätigt das Simons Einschätzung. Hier scheinen weder unbewusste Ängste noch Abwehrmechanismen im Spiel zu sein, sondern es geht um reine Bequemlichkeit, die sich am Schmerz einer anderen Person kaum stört. In seinem Buch „Character disturbance“ plädiert Georg Simon dafür, dass wir im Falle von aggressivem und zerstörerischem Verhalten in Beziehungen öfters vom Unwillen als von der Unfähigkeit der Täter sprechen sollten. Diese Auffassung hat auch den Vorteil, dass sie von den Betroffenen nicht noch Verständnis für jemanden, der sie verletzt hat, einfordert, sondern sie zur emotionalen Distanznahme befähigt.

In einigen Foren, die sich mit Ghosting befassen, wird den Betroffenen – zu denen heute Frauen und Männer gleichermassen gehören – empfohlen, den eigenen Anteil am Geschehen zu reflektieren. Insbesondere angesichts schwieriger und länger andauernder Beziehungen wird es den Verlassenen von den Bekannten und Freunden angelastet, dass sie die Vertrauenswürdigkeit der geliebten Person, falsch eingeschätzt haben, und sie somit selbst für ihr Schicksal Schuld tragen. Doch dies ist ungerecht. Auch wenn einige Menschen Schwierigkeiten in Liebesbeziehung auf sich nehmen, niemand kann mit Ghosting rechnen oder es vorausahnen.

Die Auseinandersetzung mit der Schuld bzw. mit der Verantwortung am eigenen Leid erinnert an den Diskurs über das Vertrauen und den Vertrauensmissbrauch, der seit langem in der Philosophie stattfindet. Einige neue Strömungen der ökonomischen Vertrauensforschung, die sich auf Spiel- und Vertragstheorien stützten, wollen das Vertrauen als einen rational begründbaren Akt sehen, dem nur das Abwägen von plausiblen Gründen vorausgeht. In dieser Interpretation bedeutet jemandem zu vertrauen nichts anders, als aufgrund vergangener Erfahrungen sein wahrscheinliches Verhalten abzuschätzen. Einige Moralphilosophen der Gegenwart warnen vor einer solchen reduktionistischen Betrachtungsweise, da diese zur Erosion der Vertrauenssysteme in Beziehungen beiträgt.

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Kultur des Vertrauens

Die PhilosophInnen, die Vertrauen nicht als eine rationale Überzeugung, sondern als ein genuin moralisches Phänomen verstehen, betonen zwei Aspekte des Vertrauens, die in jeder zwischenmenschlichen Begegnung, sowohl der flüchtigen als der dauerhaften, von Bedeutung sind. Der erste Aspekt betrifft die Wahrhaftigkeit, d.h. das Übereinstimmen den Aussagen mit der Wirklichkeit. Indem wir uns darauf verlassen, dass dies, was jemand über sich selbst, die Motive seines Handelns und allenfalls über seine Gefühle sagt, auf Wahrheit beruht, gewähren wir ihm Vertrauen und ermöglichen damit den ersten Kontakt. Diese kulturelle Praxis ist so selbstverständlich, dass wir uns ihrer oft gar nicht gewahr sind. (Ihre Wichtigkeit wird aber vielen Teilnehmer der neuen Dating-Kultur, die mit Vortäuschung operiert, erst im Schmerz der Enttäuschung bewusst.)

Der zweite Aspekt des Vertrauens ist die Voraussetzung der grundsätzlich wohlwollenden Intentionen des Gegenübers. In den zwischenmenschlichen Begegnungen müssen wir uns sowohl darauf verlassen können, dass wir nicht als Mittel zu einem bestimmten Zweck benutzten werden, sondern selbst als Personen gemeint sind, als auch darauf, dass wir wohlwollend oder zumindest nicht böswillig behandelt werden. Dieses Wohlwollen sollte nicht nur solange anhalten wie wir gemeinsame Ziele verfolgen, sondern auch dann, wenn die Interessen voneinander zu weichen beginnen und wir in einen Konflikt geraten.  In einer intimen Beziehung bedeutet es, dass man im Falle einer Trennung, die nüchtern betrachtet eine Situation abweichender Interessen ist, mit einer kooperativen und respektvollen Haltung des Partners bzw. der Partnerin rechnet. Eine solche Haltung zeigt sich unter anderem – auch angesichts einer emotionellen Betroffenheit – im klaren Verzicht auf psychische und physische Gewalt.

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In seinem Essay „Vertrauen – eine Emotion?“ bezeichnet der Philosoph Christoph Ammann das Vertrauen als eine „engagierte Einstellung“, über die wir nicht so frei verfügen können, die sich als «die Abwesenheit von Zweifel und nicht als Anwesenheit guter Gründe» manifestiert. Dies trifft zweifelsohne auf jeden Zustand der Verliebtheit, Faszination und länger anhaltender Zuneigung zu.
Gerade in den sinnlichen Begegnungen sind wir bereit Vertrauen zu zeigen, indem wir uns ungeschminkt und unbekleidet hingeben, noch bevor uns jemand seine Vertrauenswürdigkeit hat beweisen können. Unser Vertrauensvorschuss hängt dabei nicht nur von dem ab, wie das Gegenüber sich uns gegenüber verhält, sondern auch von unserer Lebensgeschichte, von der bisherigen Erfahrung in Vertrauensverhältnissen und von dem eigenen emotionellen Engagement. Wer bis anhin nur gute zwischenmenschliche Erfahrungen gemacht hat, gewährt dem anderen schneller einen Vertrauenskredit, was keinesfalls als leichtfertig abgetan werden sollte. Indem ich dem anderen vertraue, ermögliche ich ihm nämlich, sich meines Vertrauens würdig zu erweisen und mit mir in eine Vertrauensbeziehung zu treten. „Nur wenn ich anderen vertraue, erkenne ich sie als Wesen an, denen vertraut werden kann, so wie sie mich als einen anerkennen, dessen Wünsche oder Rücksichtnahme erfordern“ – betont Hartman und erklärt damit das Vertrauen zu einem Akt, der unsere Menschlichkeit konstituiert.

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Ghosting als Vertrauensmissbrauch

Die besondere Fragilität des Vertrauens besteht darin, dass es weder vertraglich noch durch ein Versprechen abgesichert werden kann. Jemandem zu vertrauen, bedeutet auf Kontrolle zu verzichten und ihm stets einen Ermessensraum zu sichern, wie er mit dem ihm geschenkten Vertrauen umgeht. Annette Baier formuliert es in ihrem Essay „Vertrauen und seine Grenzen“ zutreffend: „Vertraut man anderen, dann räumt man ihnen die Gelegenheit der Verletzung ein, und zeigt sich sogleich zuversichtlich, dass sie diese Gelegenheit nicht nutzen werden.“
Im Ghosting wird diese Gelegenheit einer Verletzung nicht nur nicht gemieden, sondern durch die Verweigerung der Aussprache sogar aktiv eingesetzt. Es ist das basale, allgemeine Vertrauen in Rücksicht und Mitmenschlichkeit, das sich in bestimmter kommunikativer Praxis manifestiert, die hier verletzt wird. Aus ethischer Sicht gibt es, abgesehen von Fällen, in denen jemand aus Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz, d.h aus Notwehr handelt, keinen ethisch plausiblen Grund, eine Aussprache zu verweigern, wenn sie vom anderen erbeten wird, insbesondere wenn zuvor ein Vertrauensverhältnis bestand. Zudem liegt bei einem schweigenden Beziehungsabbruch die Vermutung nahe, dass es für eine der Personen von Anfang an um eine zweckorientierte Beziehung handelte, in welcher das Vertrauen einer anderen Person instrumentalisiert wurde. Somit schädigt der „Abbrecher“ nicht nur die ihm vertrauende Person, sondern verletzt die gesamte kulturelle Praxis des Vertrauens und macht sich damit moralisch angreifbar. Zu Recht empfinden die Betroffenen neben Trauer auch Bestürzung und Empörung und wünschen sich von ihrer Umgebung Verständnis und Solidarität.

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Für eine neue Kultur des Abschieds

Die neue Beziehungskultur hat uns aus den Fesseln der bürgerlichen Konventionen befreit und ermöglicht eine noch nie dagewesene Bandbreite romantischer und erotischer Erlebnisse. Doch können die zwischenmenschlichen intimen Begegnungen nur dann auf Dauer funktionieren, wenn sie in eine Kultur eingebettet sind, die Vertrauensverhältnisse als wertvoll und die eigene Vertrauenswürdigkeit als erstrebenswert erachtet. Diese Werte bedürfen einer gezielten Förderung. „Die Fähigkeit, edlere Gefühle zu empfinden, ist in den meisten Naturen eine äusserst zärtliche Pflanze, die nicht an widrigen Einflüssen, sondern schon an mangelnder Pflege zugrunde gehen kann“ – beobachtete bereits im 19 Jh. Philosoph John Stuart Mill und postulierte, dass jeder einzelne an seinem Charakter arbeitet, um nicht so sehr sich selber, sondern möglichst vielen anderen Menschen Glück zu bereiten. Eine solche Aufforderung kann jedoch nur in einer Gesellschaft realisiert werden, die Ausbildung bestimmter Charaktereigenschaften – auch solchen, die zu einem würdevollen Abschied befähigen – zu einer Bedingung für den persönlichen und den gesellschaftlichen Erfolg macht.

Schluss

Information über die Autorin:

Beata Sievi ist Modefachfrau und Psychologin und studiert derzeit Angewandte Ethik an der Universität Zürich. Ihr besonderes Interesse gilt der Tugendethik.


Danksagung:

Ich danke Roger Hofer vom Philosophie Salon am Obertor für die Einführung in die Philosophie des Vertrauens.

Bei der Redaktion des Textes war für mich der geduldige Lektorat von Rolf Schneider sehr hilfreich. Zudem hat Marianne Ulmi vom Kopfwerken Gmbh mich mehrmals herausfordert,  meine Gedanken präzise zu formulieren und ich hoffe, dass ich dieser Anforderung gerecht wurde.

Ulla Rohr und Maria Isliker haben mit Ihren dialogischen Bilder die künstlerischen Akzente und Kontrapunkte gesetzt. Seit 10 Jahren kommunizieren die beiden Künstlerinnen per Briefpost zwischen Italien und Schweiz. In dem Austausch haben sie auch Fotografie mit einbezogen, die teilweise zeichnerisch ergänzt wurde. Zwei Welten begegnen sich – im Anliegen menschlichen Werte immer wieder ins Bewusstsein zu bringen.

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