Kategorie: Sehnsucht nach Liebe

„Eros – die fremde Macht in uns.“ Salon vom 27. November 2021

Beata Sievi im Gespräch mit dem Schauspieler Alexandre Pelichet

Gegen Widerstände der Moral, der Gesellschaft und der Vernunft setzt sich der Eros – wenn auch nur im Augenblick – durch, und setzt List, Ausreden und Täuschungsmanöver ein, um zu seinem Ziel zu kommen. Aber was begehren wir eigentlich? Und ist Eros nur auf den Ausgleich eines Mangels, auf die Befriedigung eines sinnlichen Bedürfnisses ausgerichtet? Oder aber entsteht er erst dort, wo die unmittelbare Befriedigung aufgeschoben wird, und transzendiert somit das Unmittelbare und Sexuelle? Im Vorfeld des nächsten Salons, habe ich mich mit dem Schauspieler Alexandre Pelichet über die Texte von Italo Calvino, Antonio Tabucchi und Markus Werner unterhalten, die er am 27. November interpretieren wird. 

Alexandre Pelichet, Bild: Beata Sievi

Beata: Alexandre, Du hast inzwischen alle von mir vorgeschlagenen Texte gelesen. Erinnerst Du Dich an den Satz in der «Frau von Porto Pim» von Tabucchi: «Es ist eigenartig, wie die Liebe von uns Besitz ergreift?» – Der Ausdruck «Besitz ergreifen» verdeutlicht die fremde Macht, der der junge Mann unerwartet ausgeliefert ist. Er sucht nur ein Abenteuer und ist plötzlich doch verliebt. Die Schilderung seiner Emotionen berührt mich; wie ihm die Schönheit der Frau die Hitze in die Schläfen treibt und wie er vom Schwindelgefühl ergriffen wird. Diese Phänomenologie des Verliebt-Seins, die die Entzückung, das Rausch-Gefühl und die Wahnvorstellungen miteinschliesst, finde ich bei Tabucchi sehr nachvollziehbar. Oder auch die Metapher des Klangs in der Erzählung „Ein Traum in Form eines Briefes“; der Gott der Liebe als Klang, der in einem einsamen Tempel am Strand zu hören ist. Wie kam dies bei dir an?
Alexandre: Zuerst fand ich den Klang als eine Metapher für die Personifikation eines Gottes seltsam. Andererseits ist ein Klang auch Musik, also Schwingung. Und die hat eine sehr starke Wirkung, der man sich nicht entziehen kann. Der verlockende Sirenengesang ist ja aus der Mythologie bekannt. Für mich war Deine Übersetzung dieses Fragmentes vom «Gott der Liebe» eher ein Motiv des Höhepunktes. Ich lese es schlicht als eine poetische Beschreibung eines Orgasmus.
Beata: …Wirklich? Daran habe ich nie gedacht, das muss du mir erklären.
Alexandre: Du muss es einfach noch mal lesen! (Alexandre lacht) Zugegeben es ist sehr fein, verschlüsselt…
Beata: …ja Tabucchi spricht von einem Klang, der bei jedem, der sich ihm aussetzt, eine Art Rausch, Schwindelgefühle und Wahnvorstellungen erzeugt….
Alexandre: …und es steigert sich bis zu einem Höhenpunkt.
Beata: Denkst Du an die Schilderung, dass sich der Klang ausbreitet und ein Echo ohne Ende reproduziert? Oder meinst du eher den Moment, als der Wanderer vom höchsten Punkt der Insel auf den Strand blickt und den Liebestempel nicht mehr vorfinden kann? Das würde tatsächlich der Flüchtigkeit der sinnlichen Erlebnisse entsprechen. Du kannst sie nicht halten!
Alexandre: Ja, genau – man bezeichnet einen Orgasmus doch auch als den «kleinen Tod.» Der Tempel ist aber die viel schönere Metapher! Man versucht gemeinsam zum Tempel zu kommen, in verschiedenen Zwischenschritten, die Tabucchi beschreibt. Die geteilte Gewissheit, dass es einen Tempel gibt, einen Zenit, wo der ganze Eros hinführt – das ist doch schön! Auch wenn nicht alle immer dorthin kommen, aber; der Weg ist das Wesentliche.

Mussende Tempel, Bild: Tyler Collins Photograph

Alexandre: Oder stell Dir die unnahbare Witwe im «Abenteuer des Rekruten» von Italo Calvino vor. Hätte sie früher in die Avancen des Rekruten eingewilligt, dann wäre er schon auf halbem Wege im Tempel angekommen, das wäre doch schade!
Beata: Ja, für sie selbst und für den Leser! Konrad Paul Liessmann sagt in seinem Essay «Eros, der listige Gott», dass Eros nur dort entsteht, wo die unmittelbare Triebbefriedigung aufgeschoben wird.
Alexandre: Das erzeugt natürlich eine herrliche Spannung – im Leben, wie in der Literatur…

Messende Tempel, Bild: Tyler Collins Photograph

Beata: Deine Interpretation dieses Texts von Tabucchi ist optimistischer als die meine. Ich habe ihn immer als Plädoyer für «Liebe als Einbildung» gelesen. Möglicherweise hängt dies mit einer Erfahrung unerwiderter, verzweifelter Liebe zusammen, deren ich mich schon in jungen Jahren nicht erwehren konnte. Es war mir oft nicht möglich, meine eigene Liebes-Sehnsucht von den vermeintlichen Gefühlen eines anderen zu unterscheiden. Die Ernüchterung, die eintritt, wenn man feststellt, sich nicht gemeinsam in einem Tempel, sondern alleine auf einer verlassenen Insel zu befinden, ist mir nicht fremd. Das sind für mich die «Trugbilder», von denen Tabucchi spricht.
Was mir aber für unseren Salon relevant erscheint, ist die Bereitschaft der literarischen Figuren, für einen Liebestraum emotionale Risiken einzugehen. Dies steht im Kontrast zum Kalkül der «modernen» erotischen Beziehungen. Im Roman von Markus Werner «Am Hang», aus dem Du auch vorlesen wirst, streiten sich zwei Männer über den Versuch, Gefühle in erotischen Begegnungen stets im Zaum zu halten. Sind die Helden unserer Lesung nicht allesamt ein Kontrastprogramm zu den modernen Trends auf diesem Gebiet?
Alexandre: Ich glaube leider, ja. Vielleicht sollten wir die Texte in Schulen lesen!
Beata: Ich hätte Angst, ausgelacht zu werden…
Alexandre: Ein Risiko, das sich lohnen würde! Zumindest im Hinblick auf den Liebestraum einiger Jugendlicher. Den sieht Alain Badiou in seinem Essay «Die bedrohte Liebe» zu recht ziemlich bedroht. Aber da greife ich ja schon zu weit vor. Badiou begegnen wir dann erst in einem späteren Salon…

Schauspieler Alexandre Pelichet Salon Lesung in Winterthur
Schauspieler Alexandre Pelichet, Bild: Beata Sievi

Alexandre Pelichet, in Zürich geboren, durchlief seine Ausbildung zum Schauspieler an der Scuola Teatro Dimitri in Verscio und am Hamburgischen Schauspielstudio Frese. Danach wirkte er in Schauspiel- und Musicalproduktionen an zahlreichen deutschen Bühnen mit. Von 2007 bis 2012 war er Mitglied des Schauspielensembles am Theater St. Gallen und ist seither als freischaffender Schauspieler tätig. Unter anderem an der Kellerbühne St. Gallen, am Theater Rigiblick in Zürich und als Sprecher beim SRF.

Beata Sievi Salon für Beziehungskultur Winterthur
Beata Sievi, Gründerin des Salons für Philosophie und Beziehungskultur in Winterthur

Informationen zur Anmeldung:

„Eros, die fremde Macht in uns“ – fesselnde Geschichten und philosophische Streitgespräche. Mit dem Schauspieler Alexandre Pelichet ( Lesung) und Beata Sievi (Moderation).

Datum: Samstag, 27. November 2021, 17.00-ca. 21.00 Uhr
Anmeldung: salon@beatasievi.ch (bitte sobald möglich, die Plätze sind begrenzt, die Veranstaltung findet auf jeden Fall statt)
Ort der Veranstaltung: Atelier Foif, Strittackerstrasse 23 a, 8406 Winterthur,
Eintrittspreis: CHF 80 inkl. Konsumation (Wein, Snacks, Focaccia della Nona, Beata`s Streusel Kuchen und Cafe). Atelier Foif ist ein besonderer Ort für kulinarische Kunst und Genuss.
Konditionen: Die Anmeldungen per E-Mail sind verbindlich (bitte Postanschrift angeben), es wird innert 3-5 Tagen eine Bestätigungsmail mit den Kontoangaben für die Zahlung versendet. Bei Abmeldungen ist eine Rückerstattung leider nicht möglich, der Eintritt kann jedoch an Freunde oder Bekannte weitergegeben werden.
Sicherheitskonzept: Eintritt ist nur mit einem gültigen COVID-Zertifikat möglich. (Es werden keine Schnelltests akzeptiert, bitte informieren Sie sich über die geltenden Bedingungen des BAG unter folgendem Link.

Schauspieler Alexandre Pelichet, Bild: Beata Sievi

Drei Metaphern der Täuschung und der Liebe

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Lange bevor die Neurobiologie uns mit den chemischen Prozessen, die hinter dem intensiven Begehren und der Liebe verborgen sind, vertraut machte, hat die Literatur ihre eigene Metapher dafür gefunden. Dabei suchten die grossen Schriftsteller oft nach der Antwort auf die Frage, ob unsere Empfindungen und die tiefe Zuneigung zu einer bestimmten Person, lediglich einer Täuschung zu verdanken sind. Marcel Proust widmete sein Werk « A la recherche du temps perdu » der Analyse einigen unerwiderten Faszinationen und bediente sich dabei der Metapher der Spiegelung um zu erklären, weshalb die intensiven Gefühle andauern, auch wenn sie nicht zum gegenüber durchdringen.
„Wenn man liebt, ist die Liebe zu gross, um ganz in uns enthalten zu sein; sie strahlt aus auf die geliebte Person, trifft in ihr auf eine Fläche, an der sie nicht weiter kann, und ist dadurch gezwungen, zu ihrem Ausgangspunkt zurückzukehren; in dieser Rückwirkung unseres eigenes Gefühls glauben wir dann das Gefühl des anderen zu erkennen und lassen uns viel stärker bezaubern als auf dem Hinweg, weil wir es nicht als das unsere wiedererkennen.“

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Cornwall, Bild: Beata Sievi

In einem eindrücklichen Text « Hesperiden. Ein Traum in Form eines Briefes » der in voller Länge nur im Original oder in französischen Übersetzung zugänglich ist, beschreibt Antonio Tabbucci den Liebesgott als ein Klang. Demnach unterliegen alle Menschen, die dem Klang beiwohnen lediglich einer mächtigen Sinnestäuschung, wenn sie zu lieben glauben.
(…) „Auch ich habe dem Gott der Liebe ein Opfer dargebracht, sein Tempel befindet sich auf einer Insel mit weissen und gewölbten Stränden, auf klarem Sand, der vom Meer umspült wird. Die Repräsentation dieses Gottes ist weder ein Idol, noch sonst etwas Sichtbares, sondern ein Klang. Ein klarer Klang des Meereswassers, das durch einen in den Felsen ausgehöhlten Kanal in den Tempel eindringt, sich ausbreitet und in ein geheimes Reservoir einmündet: hier, dank der Form der Wände und des Ausmasses der Konstruktion, reproduziert sich der Klang als Echo ohne Ende, entzückt denjenigen, welcher ihm zuhört und verursacht eine Art Rausch und Schwindelgefühl. Diesen Gott verehrend exponiert man sich auf Leiden unterschiedlichster und seltsamster Art, weil es sein Prinzip ist, welches das Leben beherrscht, aber dies Prinzip ist seltsam und launenhaft; es ist wahr, dass er die Seele und die Eintracht der Elemente darstellt, aber er kann ebenfalls Trugbilder, Wahnvorstellungen und Visionen erzeugen.“

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Cornwall, Beata Sievi

Der italienische Autor berichtet weiter über die Erkundung der einsamen Insel, die den Tempel des Liebesgottes beherbergt und über seine plötzliche Enttäuschung, als selbst der Tempel sich als eine Illusion erweist. Die eigene Wahrnehmung und der Traum vereinen sich in mehrschichtiger Metapher.

„Und ich habe auf dieser Insel den Spektakeln beigewohnt, die mich durch ihre unverdorbene Wahrheit verwirrt haben: so dass ich mich fragte, ob solche Erscheinungen wirklich existierten, oder eher aus meinem Gefühl geborene Phantasmen waren, die – aus mir heraustretend, da ich mich dem Gesang des Gottes ausgesetzt habe – den Schein von Realität angenommen haben: und so in Gedanken versunken, nahm ich den Weg zu dem höchsten Punkt der Insel, von wo aus man das Meer von allen Seiten betrachten kann.

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Cornwall, Bild: Beata Sievi

Alsdann bemerkte ich: die Insel war verlassen. Es gab keinen Tempel auf dem Strand, und die Gestalten und die verschiedenen Gesichter der Liebe, die ich wie ein lebendiges Gemälde gesehen und welche die verschiedenen Nuancen des Gefühls, wie Zärtlichkeit, Dankbarkeit, Stolz und Eitelkeit darstellten, alle diese Gesichter, die ich als eine menschliche Form zu erblicken glaubte, waren nichts anderes als Illusionen, durch was weiss ich welchen Zauber verursacht. Als ich den höchsten Punkt der Vorgebirge erreichte und, auf das Meer herabblickend, mich der Traurigkeit der Enttäuschung hingab, senkte sich eine blaue Wolke auf mich nieder und hüllte mich in einen Traum: ich träumte, dass ich dir diesen Brief schrieb, und dass ich nicht der Grieche war, welcher auf der Suche nach dem Abendland aufgebrochen war und nie zurückkam, sondern, dass ich all dies lediglich in einem Traumbild sah.“ (…)

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Strand von Cornwall, Bild: Beata Sievi

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Strand in Cornwall, Bild: Beata Sievi

Anders sieht es die polnische Dichterin und Nobelpreisträgerin Wislawa Szymborska. Mit einem kritischen Blick auf den blinden Zynismus der Menschen, die das Privatuniversum einer großen Liebe nicht verstehen können, vergleicht sie Leidenschaft, die sogar für die Liebenden selber oft unverständlich bleibt, mit dem blinden Optimismus einer Pflanze. In Ihrem Buch „Undisclosed lectures“ schreibt sie:

„Unbeteiligte Beobachter fragen die Liebenden oft was sie im Objekt ihrer Liebe erblicken. Solche Fragen sollte man besser in Ruhe zu lassen – grosse Liebe bedarf keiner Rechtfertigung. Sie ist wie ein Baum, der auf unerklärliche Weise einer Klippe entspringt: Wo sind seine Wurzeln, woher holt er die Nahrung, welches Wunder bringt seine grünen Blätter hervor? Auch wenn es unerklärlich ist – der Baum wächst – weil er offensichtlich das nötigste bekommt um zu überleben…“

Pfalz, Bild: Ewald Vorberg
Pfalz, Bild: Ewald Vorberg

Ist aber das Überleben ein ausreichendes Ziel für die Liebe? Ist nicht eine Liebe, die lediglich auf kargem Boden der Täuschung wächst, immer in Gefahr, nie wirklich zu gedeihen?

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Antonio Tabucci: La Femme de Porto Pim, et autres histoires, 1993
Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Im Schatten jünger Mädchenblüte“, Suhrkamp 2004
Wislawa Szymborska: Lekture nadobowiazkowe, Znak 2004 oder „Nonrequired reading“ 2002

Passage du désir

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Karte von Cornelia nach dem Salon vom 14. Januar 2017

Es freut mich immer nach dem Salon die Feedbacks der Gäste zu lesen. Die handgeschriebene Karte von Cornelia W. hat mich besonders berührt. Sie knüpft direkt an unsere Diskussion über flüchtige Begegnungs-Momente auf der Strasse und an meine Erzähung über eine fesselnde Begegnung im Warschauer Traum in der Zeit meines Psychologie-Studiums. Meine Erzählung erinnerte Cornelia an die Zeilen Baudelaires, die ich nicht kannte. In dem Gedicht wird ein Mann vom Blitz der Liebe getroffen, als er die Frau erblickt, die anmutig den Saum ihres Kleides hält…

An eine, die vorüberging – Charles Baudelaire

Der Straßenlärm betäubend zu mir drang.
In großer Trauer, schlank, von Schmerz gestrafft,
Schritt eine Frau vorbei, die mit der Hand gerafft
Den Saum des Kleides hob, der glockig schwang;

Anmutig, wie gemeißelt war das Bein.
Und ich, erstarrt, wie außer mich gebracht,
Vom Himmel ihrer Augen, wo ein Sturm erwacht,
Sog Süße, die betört, und Lust, die tötet, ein.

Ein Blitz … dann Nacht! – Du Schöne, mir verloren,
Durch deren Blitz ich jählings neu geboren,
Werd in der Ewigkeit ich dich erst wiedersehn?

Woanders, weit von hier! zu spät! soll’s nie geschehn?
Dein Ziel ist mir und dir das meine unbekannt,
Dich hätte ich geliebt, und du hast es geahnt!

À une passante

La rue assourdissante autour de moi hurlait.
Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse,
Une femme passa, d’une main fastueuse
Soulevant, balançant le feston et l’ourlet;

Agile et noble, avec sa jambe de statue.
Moi, je buvais, crispé comme un extravagant,
Dans son oeil, ciel livide où germe l’ouragan,
La douceur qui fascine et le plaisir qui tue.

Un éclair… puis la nuit! — Fugitive beauté
Dont le regard m’a fait soudainement renaître,
Ne te verrai-je plus que dans l’éternité?

Ailleurs, bien loin d’ici! trop tard! jamais peut-être!
Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais,
Ô toi que j’eusse aimée, ô toi qui le savais!

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Paris, Monmartre, 2010, Bild: Beata Sievi

Das Gedicht von Baudelaire erinnerte mich an Marcel Proust, der sein Lebens Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ der Sehnsucht nach Liebe gewidmet hat. Auf mehreren Seiten beschreibt er die flüchtigen Begegnungen, welche ein starkes Begehren auslösen, das durch die Unerreichbarkeit des Objektes verstärkt wird. Dabei gilt das Verlangen nie ausschliesslich dem Körper, sondern sucht das Wesen der Person zu durchdringen. Ich habe die sechs Bände als 22-jährige gelesen aber erst heute erschliesst sich mir der Sinn des gesamten Romans. Ich teile mit Euch die Fragmente, die ich mir damals, in der Zeit grosser Sehnsucht nach einer Liebesbegegnung, angestrichen habe…

“Ich wußte, daß ich diese junge Frau nicht besitzen würde, besäße ich nicht auch das, was in ihren Augen war. Und so war es infolgedessen ihr ganzes Leben, das meine Begierde erregte; eine Begier, die schmerzlich war, weil sie, ich fühlte es, nicht zu befriedigen war, doch auch berauschend, weil das, was so lange mein Leben gewesen, mit einem Schlage aufgehört hatte, mein ganzes Leben zu sein, und nicht mehr als ein kleiner Teil der Fläche, welche sich da vor mir dehnte, war – der Fläche, die ich ungeduldig brannte zu durchmessen, denn sie war aus dem Leben dieser jungen Mädchen gemacht, und sie versprach mir jene mögliche Verlängerung, Vervielfältigung seiner selbst, die das Glück ist.”

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Paris 2010, Bild: Beata Sievi

„War es, weil ich nur flüchtig sie bemerkt hatte, daß sie für mich so schön erschienen war? Vielleicht. Zuvörderst: daß es unmöglich ist, bei einer Frau sich aufzuhalten, daß die Gefahr besteht, an einem andern Tage sie nicht wieder zu treffen, teilt ihr mit einem Male das Verlockende mit, das einem Lande Krankheit oder Armut verleihen, die uns hindern, es zu besuchen, oder den glanzlosen Jahren, welche uns noch zu leben bleiben, der Kampf, in dem wir ohne Zweifel unterliegen. Und wäre die Gewohnheit nicht, so müßte dergestalt das Leben jenen Wesen, die jede Stunde vom Tode bedroht sind, – will sagen allen Menschen –hinreißend erscheinen. Wenn fernerhin die Phantasie vom Drang nach dem, was wir nicht besitzen können, beschwingt ist, bricht ihr Elan sich nicht an einer Wirklichkeit, wie sie vollständig, unverstellt in einer jener Begegnungen uns erscheinen würde; ist doch der Charme einer Vorübergehenden gewöhnlich direkt der Schnelligkeit ihres Vorüberkommens proportional.“

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Paris, Passage du Desir, Bild: Beata Sievi

Wir hatten uns anlässlich des Textes “Paradies im Boudoir” gefragt ob es angebracht ist einem solchen unmitelbaren Begheren zu folgen. Mündet es nicht zwandsläufig in Enttäuschung? Marcel Proust hält für uns eine anekdotische Antwort bereit…

“Wenn ich hätte absteigen und mit dem Mädchen, das wir gekreuzt hatten, hätte sprechen können, so wäre ich vielleicht durch einen Fehler ihres Teints, den ich vom Wagen aus nicht bemerkt hatte, aus meiner Illusion gerissen worden. Vielleicht hätte ein einziges Wort von ihr oder ein Lächeln mir einen Schlüssel, eine unerwartete Chiffre gegeben, so daß ich ihren Ausdruck in Gesicht und Schritt hätte lesen können, und der wäre dann augenblicks banal geworden. Es ist möglich, denn nie habe ich so begehrenswerte Mädchen je im Leben gefunden wie an den Tagen, an welchen ich mit irgendeiner gewichtigen Persönlichkeit zusammen war, die ich trotz Vorwänden, welche ich ersann, nicht verlassen konnte; einige Jahre nachdem ich zum ersten Male in Balbec gewesen war, fuhr ich mit einem Freunde meines Vaters in Paris im Wagen aus, und da bemerkte ich eine Frau, die schnell in der Nacht ausschritt. Ich dachte, es sei Wahnsinn, aus Schicklichkeitsgründen meinen Anteil am Glück in dem – unbedingt einzigen – Leben, das ist, zu verlieren, sprang aus dem Wagen, ohne um Entschuldigung zu bitten, machte mich ans Verfolgen jener Unbekannten, verlor sie an der Kreuzung zweier Straßen aus den Augen und fand in einer dritten endlich mich ganz außer Atem im Licht einer Gaslaterne der alten Frau Verdurin gegenüber, die von mir gemieden wurde, wo ich nur konnte, und nun in glücklicher Überraschung ausrief: »O wie reizend von Ihnen, daß Sie gerannt sind, um mir guten Tag zu sagen.«

Marcel Proust, „Im Schatten junger Mädchenblüte“, übersetzt von Walter Benjamin und Franz Hessel

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Paris 2010, Bild: Beata Sievi