Kategorie: Liebe und Sexualität in der Geschichte

„Eros – die fremde Macht in uns.“ Salon vom 27. November 2021

Beata Sievi im Gespräch mit dem Schauspieler Alexandre Pelichet

Gegen Widerstände der Moral, der Gesellschaft und der Vernunft setzt sich der Eros – wenn auch nur im Augenblick – durch, und setzt List, Ausreden und Täuschungsmanöver ein, um zu seinem Ziel zu kommen. Aber was begehren wir eigentlich? Und ist Eros nur auf den Ausgleich eines Mangels, auf die Befriedigung eines sinnlichen Bedürfnisses ausgerichtet? Oder aber entsteht er erst dort, wo die unmittelbare Befriedigung aufgeschoben wird, und transzendiert somit das Unmittelbare und Sexuelle? Im Vorfeld des nächsten Salons, habe ich mich mit dem Schauspieler Alexandre Pelichet über die Texte von Italo Calvino, Antonio Tabucchi und Markus Werner unterhalten, die er am 27. November interpretieren wird. 

Alexandre Pelichet, Bild: Beata Sievi

Beata: Alexandre, Du hast inzwischen alle von mir vorgeschlagenen Texte gelesen. Erinnerst Du Dich an den Satz in der «Frau von Porto Pim» von Tabucchi: «Es ist eigenartig, wie die Liebe von uns Besitz ergreift?» – Der Ausdruck «Besitz ergreifen» verdeutlicht die fremde Macht, der der junge Mann unerwartet ausgeliefert ist. Er sucht nur ein Abenteuer und ist plötzlich doch verliebt. Die Schilderung seiner Emotionen berührt mich; wie ihm die Schönheit der Frau die Hitze in die Schläfen treibt und wie er vom Schwindelgefühl ergriffen wird. Diese Phänomenologie des Verliebt-Seins, die die Entzückung, das Rausch-Gefühl und die Wahnvorstellungen miteinschliesst, finde ich bei Tabucchi sehr nachvollziehbar. Oder auch die Metapher des Klangs in der Erzählung „Ein Traum in Form eines Briefes“; der Gott der Liebe als Klang, der in einem einsamen Tempel am Strand zu hören ist. Wie kam dies bei dir an?
Alexandre: Zuerst fand ich den Klang als eine Metapher für die Personifikation eines Gottes seltsam. Andererseits ist ein Klang auch Musik, also Schwingung. Und die hat eine sehr starke Wirkung, der man sich nicht entziehen kann. Der verlockende Sirenengesang ist ja aus der Mythologie bekannt. Für mich war Deine Übersetzung dieses Fragmentes vom «Gott der Liebe» eher ein Motiv des Höhepunktes. Ich lese es schlicht als eine poetische Beschreibung eines Orgasmus.
Beata: …Wirklich? Daran habe ich nie gedacht, das muss du mir erklären.
Alexandre: Du muss es einfach noch mal lesen! (Alexandre lacht) Zugegeben es ist sehr fein, verschlüsselt…
Beata: …ja Tabucchi spricht von einem Klang, der bei jedem, der sich ihm aussetzt, eine Art Rausch, Schwindelgefühle und Wahnvorstellungen erzeugt….
Alexandre: …und es steigert sich bis zu einem Höhenpunkt.
Beata: Denkst Du an die Schilderung, dass sich der Klang ausbreitet und ein Echo ohne Ende reproduziert? Oder meinst du eher den Moment, als der Wanderer vom höchsten Punkt der Insel auf den Strand blickt und den Liebestempel nicht mehr vorfinden kann? Das würde tatsächlich der Flüchtigkeit der sinnlichen Erlebnisse entsprechen. Du kannst sie nicht halten!
Alexandre: Ja, genau – man bezeichnet einen Orgasmus doch auch als den «kleinen Tod.» Der Tempel ist aber die viel schönere Metapher! Man versucht gemeinsam zum Tempel zu kommen, in verschiedenen Zwischenschritten, die Tabucchi beschreibt. Die geteilte Gewissheit, dass es einen Tempel gibt, einen Zenit, wo der ganze Eros hinführt – das ist doch schön! Auch wenn nicht alle immer dorthin kommen, aber; der Weg ist das Wesentliche.

Mussende Tempel, Bild: Tyler Collins Photograph

Alexandre: Oder stell Dir die unnahbare Witwe im «Abenteuer des Rekruten» von Italo Calvino vor. Hätte sie früher in die Avancen des Rekruten eingewilligt, dann wäre er schon auf halbem Wege im Tempel angekommen, das wäre doch schade!
Beata: Ja, für sie selbst und für den Leser! Konrad Paul Liessmann sagt in seinem Essay «Eros, der listige Gott», dass Eros nur dort entsteht, wo die unmittelbare Triebbefriedigung aufgeschoben wird.
Alexandre: Das erzeugt natürlich eine herrliche Spannung – im Leben, wie in der Literatur…

Messende Tempel, Bild: Tyler Collins Photograph

Beata: Deine Interpretation dieses Texts von Tabucchi ist optimistischer als die meine. Ich habe ihn immer als Plädoyer für «Liebe als Einbildung» gelesen. Möglicherweise hängt dies mit einer Erfahrung unerwiderter, verzweifelter Liebe zusammen, deren ich mich schon in jungen Jahren nicht erwehren konnte. Es war mir oft nicht möglich, meine eigene Liebes-Sehnsucht von den vermeintlichen Gefühlen eines anderen zu unterscheiden. Die Ernüchterung, die eintritt, wenn man feststellt, sich nicht gemeinsam in einem Tempel, sondern alleine auf einer verlassenen Insel zu befinden, ist mir nicht fremd. Das sind für mich die «Trugbilder», von denen Tabucchi spricht.
Was mir aber für unseren Salon relevant erscheint, ist die Bereitschaft der literarischen Figuren, für einen Liebestraum emotionale Risiken einzugehen. Dies steht im Kontrast zum Kalkül der «modernen» erotischen Beziehungen. Im Roman von Markus Werner «Am Hang», aus dem Du auch vorlesen wirst, streiten sich zwei Männer über den Versuch, Gefühle in erotischen Begegnungen stets im Zaum zu halten. Sind die Helden unserer Lesung nicht allesamt ein Kontrastprogramm zu den modernen Trends auf diesem Gebiet?
Alexandre: Ich glaube leider, ja. Vielleicht sollten wir die Texte in Schulen lesen!
Beata: Ich hätte Angst, ausgelacht zu werden…
Alexandre: Ein Risiko, das sich lohnen würde! Zumindest im Hinblick auf den Liebestraum einiger Jugendlicher. Den sieht Alain Badiou in seinem Essay «Die bedrohte Liebe» zu recht ziemlich bedroht. Aber da greife ich ja schon zu weit vor. Badiou begegnen wir dann erst in einem späteren Salon…

Schauspieler Alexandre Pelichet Salon Lesung in Winterthur
Schauspieler Alexandre Pelichet, Bild: Beata Sievi

Alexandre Pelichet, in Zürich geboren, durchlief seine Ausbildung zum Schauspieler an der Scuola Teatro Dimitri in Verscio und am Hamburgischen Schauspielstudio Frese. Danach wirkte er in Schauspiel- und Musicalproduktionen an zahlreichen deutschen Bühnen mit. Von 2007 bis 2012 war er Mitglied des Schauspielensembles am Theater St. Gallen und ist seither als freischaffender Schauspieler tätig. Unter anderem an der Kellerbühne St. Gallen, am Theater Rigiblick in Zürich und als Sprecher beim SRF.

Beata Sievi Salon für Beziehungskultur Winterthur
Beata Sievi, Gründerin des Salons für Philosophie und Beziehungskultur in Winterthur

Informationen zur Anmeldung:

„Eros, die fremde Macht in uns“ – fesselnde Geschichten und philosophische Streitgespräche. Mit dem Schauspieler Alexandre Pelichet ( Lesung) und Beata Sievi (Moderation).

Datum: Samstag, 27. November 2021, 17.00-ca. 21.00 Uhr
Anmeldung: salon@beatasievi.ch (bitte sobald möglich, die Plätze sind begrenzt, die Veranstaltung findet auf jeden Fall statt)
Ort der Veranstaltung: Atelier Foif, Strittackerstrasse 23 a, 8406 Winterthur,
Eintrittspreis: CHF 80 inkl. Konsumation (Wein, Snacks, Focaccia della Nona, Beata`s Streusel Kuchen und Cafe). Atelier Foif ist ein besonderer Ort für kulinarische Kunst und Genuss.
Konditionen: Die Anmeldungen per E-Mail sind verbindlich (bitte Postanschrift angeben), es wird innert 3-5 Tagen eine Bestätigungsmail mit den Kontoangaben für die Zahlung versendet. Bei Abmeldungen ist eine Rückerstattung leider nicht möglich, der Eintritt kann jedoch an Freunde oder Bekannte weitergegeben werden.
Sicherheitskonzept: Eintritt ist nur mit einem gültigen COVID-Zertifikat möglich. (Es werden keine Schnelltests akzeptiert, bitte informieren Sie sich über die geltenden Bedingungen des BAG unter folgendem Link.

Schauspieler Alexandre Pelichet, Bild: Beata Sievi

„Die schlafenden Schönen“ und die Vergänglichkeit des Eros – Salon-Vorankündigung

44581g1
Holzschnitt von Kotagawa Utamaro

Meine Faszination mit der japanischen Kultur besteht seit meiner Jungend und wurde durch die Romane des japanischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers Yasunari Kawabata geweckt, die ich als junges Mädchen in der Bibliothek meiner Pflegemutter fand. Die geheimnisvollen Titel wie „Schneeland“ , „Tausend Kraniche“ und „Die Stimme des Berges“ oder „Die schlafenden Schönen“ weckten meine Neugierde und ich erlag schnell der Magie altjapanischer Traditionen und Mythen und Kawabatas origineller Sprache. Seine Dialoge bestehen oft aus wagen Andeutungen, Bildfolgen sind gleichsam musikalisch komponiert. Seine Protagonisten sind meistens durch tiefe Emotionen der Liebessehnsucht und Trauer bewegt, doch bleibt ihr inneres Leben verborgenen und drückt sich höchstens symbolisch aus – im Muster des getragenen Kimonos oder in einer Teeschale, die man als Geschenk der geliebten Person überbringt.

Utamaro Six Beauties b
Kitagawa Utamaro, Sechs Schönheiten (Fragment)

Erst viele Jahre später entdeckte ich die Zeichnungen von Kitagawa Utamaro. Mit dem Beginn der Kansei-Zeit (1789–1819) schuf er eine Anzahl von Frauen-Porträts, die als bijin ōkubi-e bekannt wurden, also Bilder, in denen die Köpfe der Porträtierten das ganze Blatt einnehmen. Die Frauen in den Zeichnungen von Utamaro sind mit Detail-Reichtum dargestellt,  umfassen verschiedene Temperamente, soziale Klassen und offenbaren auch innere Zustände der Dargestellten. Damit unterscheiden sie sich von den idealisierten, ausdruckslosen Schönheiten, die das  populär gewordene Genre überflutet haben.

1f3e9e36e42b1759db8943066e6fcff9
Holzschnitt von Kitagawa Utamaro

Kitagawa Utamaro, Love for a Farmer's Wife, 1795-96
Holzschnitt von Kitagawa Utamaro, „Liebe für die Bauersfrau“ 1795

Bijin-ga gilt mittlerweile als Gattungsname für Holzschnitt – Darstellung ( ukiyo-e) von schönen Frauen, die jeweils dem zeitgenössischen Schönheitsideal entsprachen, unabhängig von der Entstehungszeit der Kunstwerke. Die Geschichte dieser Kunstgattung erlaubt die allmählichen Veränderungen des weiblichen Schönheitsideal in Japan zu verfolgen.

il_794xN.852877045_rwdx
Japanische Kunstdrucke, Frau bei der Anwendung des Puders, Hashiguchi Goyo , 1918

tumblr_o0qbw8Idwk1uqg8uco4_1280
Yasunari Ikenaga, zeitgenössicher bijin-ga Künstler, geb. 1965

Um meiner langjähriger Faszination mit der japanischen Kultur Rechnung zu tragen, habe ich 2005 für mich ein traditionelles japanisches Kostüm angefertigt, das aus einem festlichen Kimono, einem Unterkimono (nagajuban) und einem Obi besteht. Der Kimono wurde von mir, gemäss der japanischen Tradition, von Hand genäht, wobei die gesamte Kreation mehr als 50 Stunden Arbeit benötigte. Um das Kimono Tragen zu können habe ich mich von einer japanischen Kimonomeisterin unterrichten lassen. Auch die meisten japanischen Frauen wären nicht in der Lage, ohne weitere Hilfe einen Kimono korrekt anzuziehen. Die typische Ausstattung für Frauen umfasst normalerweise zwölf oder mehr einzelne Stücke, die jeweils auf eine bestimmte Weise angelegt werden müssen. Es gibt daher noch immer professionelle Kimono-Anlegegehilfen, die man vor allem für besondere Anlässe zur Unterstützung anstellen muss.

名君_閨中の粧ひ-The_Oiran_Yoso-oi_Seated_at_Her_Toilet_MET_DP135641
Holzschnitt von Kitagawa Utamaro, Toilette

In der Literatur unternahm der Nobelpreisträger Yasunari Kawabata ein bemerkenswerter Versuch der Auseinandersetzung mit der weiblichen Schönheit und Erotik. Sein Roman „Die schlafenden Schönen“ aus dem Jahr 1960 fasziniert mich seit vielen Jahren und ich werde am 29. Februar 2020  in meinem Salon eine Lesung aus diesem Roman anbieten.

IkenagaYasunari(池永康晟)-カイ-13 s
Yasunari Ikenaga, zeitgenössicher bijin-ga Künstler, geb. 1965

Protagonist des Romans ist ein Mann an der Schwelle zum Alter wird von einem Freund in ein Freudenhaus besonderer Art eingeführt. Das Haus ist nur für ältere Männer bestimmt und bietet junge Frauen im Tiefschlaf an. Eguchi verbringt – in immer kürzer werdenden Abständen – mehrere Nächte neben immer anderen jungen Frauen und Mädchen. Eine jede weckt andere Phantasien, andere Erinnerungen an Frauen, die Eguchi in seinem Leben gekannt hat – an die eigene Ehefrau und die Töchter, an Geliebte, an Bekanntschaften einer Nacht. Im Mittelpunkt der Erzählungen steht die Beschreibung der Schönheit und Erotik der jungen Frauen, die Kawabata mit seinem geschulten Empfinden für Ästhetik gekonnt ausführt. Die Spannung entsteht, gerade weil zwischen Eguchi und den Mädchen immer eine Distanz bleibt und die Mädchen letztlich für ihn unerreichbar bleiben. Trotz der moralischen Bedenken, ob es richtig ist, neben wehrlosen, wie Spielzeuge für ihn hergerichteten Frauen zu schlafen, ziehen ihn die schlafenden Schönen immer wieder aufs Neue an und er ist geneigt herauszufinden, was es mit dem Freudenhaus auf sich hat. Doch ehe er das Geheimnis aufdecken kann, kommt es zu einer Katastrophe. Eine Geschichte, die in der patriarchalischen Kultur eingebettet ist und Fragen betreffend der Verdinglichung der Frauen aufwirft. Anderseits ist es eine Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit des Eros, die der heutigen Überhöhung aktiver Sexualität entgegenläuft und einen Zugang zu sinnlicher Melancholie eröffnet.

Ikenaga_Yasunari
Bijin-ga von dem modernen Künstler, Yasunari Ikenaga

Samstag, 29. Februar 2020, 17 Uhr – „Die schlafenden Schönen“ – Thomas Blubacher liest aus dem Roman von Yasunari Kawabata, Moderation und Kimonovorführung – Beata Sievi.
Ort: Beata Sievi`s Salon Bibliothek, Winterthur. Eintritt CHF 65 ( inkl. Konsumation). Anmeldung: salon@beatasievi.ch. (Der Salon ist ausgebucht, es besteht eine Warteliste)

WOLLUST – DIE SCHÖNSTE TODSÜNDE – LESUNG VOM 6. APRIL 2019

Zichy, Sammlung Hans-Jürgen Döpp
Michaly Zichy, Sammlung Hans-Jürgen Döpp, http://www.aspasia.de

Sexuelle Empfindungen und sexuelle Aktivitäten hängen mit der Befriedigung zentraler menschlicher Bedürfnisse zusammen. Sie zeigen eine große Variationsbreite sowohl in der Intensität des Erlebens als auch im Spektrum des sexuellen Verhaltens. Das sinnliche Verlangen kann einen Menschen gelegentlich derart überwältigen, dass dieser für Stunden, Tage oder sogar Wochen das Gefühl hat, nicht mehr Herr seiner selbst zu sein. „Mit Wollust zu leben ist, als wäre man an einen Geistesgestörten gefesselt“ – sagt Philosoph Simon Blackburn in seinem Essay „Wollust. Die schönste Todsünde.“ Und er betonnt, dass so etwas wie kontrollierte Ektase gar nicht gibt, wenn man vor Lust die Erde beben spürt. So ergeht es auf jeden Fall auch dem Protagonisten des Romans „Morbus Fonticuli“ von Frank Schulz, der der sexuellen Energie und dem üppigen Körper der Exfloristin Bärbel verfällt und dabei Verstand und Stellung verliert. Seine auserwählte scheint ein Archetypus der lustvollen Frau zu sein, die sich um nichts anderes, als um sinnliches Vergnügen kümmert:

«Sie war eine Holly Golightly aus der Provinz. Sie war eine der wenigen Frauen ohne Handtasche, die ich kannte; Geld trug sie lose in den Jeans beziehungsweise, wenn sie ein Kleid anhatte, in den Stiefelchen, im Slip oder im Dekolleté. Scheine, versteht sich. Münzen verwendete sie – und keineswegs erst zur Zeit ihres gerade zu spät venezianischen Lebensstils als prosperierende Geschäftsfrau – als Trinkgeld und Almosen, oder sie schenkte es Kindern. Sie rannte einfach so in der Gegend herum, nichts am sensationellen Leib als das Nötigste. Im Sommer lief sie barfuss, den Haustürschlüssel am Halskettchen, darüber ein leichtes Fähnchen: ohne Geld, ohne Sorgen, ohne Verlegenheiten. Fast immer fand sich ein lüsterner Grünschnabel, ein Marktbeschicker oder Schornsteinfeger, ein Intellektueller Stromer oder chevalesker Frührentner, der sich Schwachheiten einbildete und ihr ein Eis oder ein Glas Sekt spendierte. Sie lebte in den Tag und in die Nacht hinein, nicht nur in die Samstagnacht wie so viele ihre Altersgenossen.» Gab es für diese Romanfigur ein reeller Prototyp oder handelt es sich um reine Phantasie des Autors und die männliche Phantasie schlechthin?

P030
John Coller, Lilith 1887

Die 1,5 Stündige Lesung „Bärbel Episoden – oder die Fesseln der Wollust“, die am 6. April in meinem Salon stattfinden wird, bietet eine Auswahl der aufregendsten sinnlichen Abenteuer von Bodo und Bärbel. Faszinierend und fesselnd sind dabei nicht nur die sonderbaren Freilichtakten und originellen Szenarien der sinnlichen Begegnungen, sondern die Dynamik der gegenseitigen sexueller Herausforderung. „Wollust ist hier wie gemeinsames musizieren, wie eine harmonische Symphonie aus Freude und entsprechender Reaktion“ – beschreibt Blackburn eine glückliche Liebesbegegnung, was auch auf Bodo und Bärbel zutrifft. Hier finden beide nicht in erster Linie Gefallen an sich salbt, sondern an der Erregung des anderen. Die Liebesszene auf der Köhlbrandbrücke gehört mit Sicherheit zu den gewagtesten Liebesszenen der Literatur. Wer dran Anstoss nimmt, dem sei erinnert, dass selbst der griechische Philosoph Diogenes den Geschlechtsakt als natürlich angepriesen hat, und um dies zu beweisen ihn mit seiner Frau Hipparchia auf den Treppen des Tempels sich in aller Öffentlichkeit zu treiben pflegte. Eindrücklich und sprachlich gewandt ist auch das Zugeständnis der Protagonisten des Romans für die gemeinsame Vorliebe für Lingerie, das die These vom Blackburn bestätigt, dass Wollust im wesentlichen die Vorfreude auf sexuelle Aktivität sei.

Der Text von Schulz verquirlt Nonsens und Kalauer, Ironie und Sarkasmus, Satire und Parodie, und ist – in der hervorragenden Interpretation des Schauspielers Ulrich Vogel – ein furioses Hörvergnügen. Nach der Lesung findet eine moderierte Diskussion darüber, ob und unter welchen Umständen sexuelle Impulse die Kraft besitzen unsere Willensprozesse zu durchkreuzen.

Teilnehmer*innen Zahl ist auf 18 Personen beschränkt. Anmeldung bis 6. März an salon@beatasievi.ch. Bitte bei Anmeldung eine volle Anschrift angeben.

Datum: 6. April 2019, 17-21 Uhr, Eintrittspreis: CHF 65 Neugäste/ CHF 55 Stammgäste inkl. Konsumption (Prosecco, Wein, Kafé, Tee, Salziges und Süsses. Ort: Salon-Bibliothek von Beata Sievi, Winterthur

April 2019

Information über den Schauspieler:

Ulrich Vogel wirkt als Schauspieler, Sänger, Sprecher, Kabarettist und Bühnenbildner im Raum Karlsruhe – Frankfurt. Die Bühnenreife erlangte er am Staatstheater Karlsruhe.
Von 1992 – 2005 war er am Theater der Stadt Heidelberg als Schauspieler engagiert. Dort gewann er auf Grund seiner stimmlichen Fähigkeiten, auch spartenübergreifend, als Sänger ein treues Publikum. Daneben hat er sich durch zahlreiche, vor allem auch erotische Lesungen im Frankfurter Venusberg, einen Namen als gefragter Vorleser gemacht. Derzeit arbeitet er freiberuflich mit Wohnsitz in Karlsruhe.

Michaly Zichy, Sammlung Hans-Jürge Döpp
Michaly Zichy, Sammlung Hans-Jürgen Döpp, http://www.aspasia.de

 

 

 

 

Korsett und Emanzipation

Text von Beata Sievi

In den 20 Jahren meiner Arbeit als Korsettdesignerin wurde ich immer wieder darauf hingewiesen, besonders gern von Journalisten, dass das Korsett ein Symbol der weiblichen Unterdrückung sei. Diesen Vorurteilen versuchte ich stets mit Gelassenheit zu begegnen. Nachdem ich in den letzten zwei Jahren eine Reihe kultureller Veranstaltungen organisiert habe, die die Befreiung der weiblichen Sexualität aus den Fesseln des Patriarchats thematisieren, werde ich nun erst recht gefragt, wie ich Korsetterie und Emanzipation miteinander verbinde. Die Antwort: Es ist nicht das Korsett, das weibliche Verführung mit Unterdrückung verbindet, sondern das Patriarchat. Denn Korsetts können Frauen durchaus darin bestärken, ihre Rechte und ihr Vergnügen aktiv einzufordern.

84.
Lady showing bracelet to her suitor, Jean-François Detroy 1734

Korsett und erotische Subjektivität der Frau

Als ich mich vor 20 Jahren mit der Geschichte des Korsetts zu befassen begann, stiess ich auf die Werke der amerikanischen Modeforscherin Valerie Steele. Die Untersuchung konkreter historischer Beispiele führte sie in ihrem Buch „The corset. A cultural history“ zum Schluss, dass ein Mieder schon früh ein Mittel der selbstbewussten Inszenierung weiblicher Schönheit war und in Verführungen gekonnt eingesetzt wurde. Frauen des 18. und 19. Jh. waren weit davon entfernt, lediglich Objekte des männlichen Begehrens zu sein, sondern  spielten aktiv mit ihrer modischen Aufmachung. Valerie Seele lieferte mir damit einen Beweis für meine vage Intuition, dass es zu kurz greift, Korsetts per se mit Einschnürung und Unterdrückung gleichzusetzen.

Heute, nach der Lektüre der Werke der berühmten Soziologin Eva Illouz, würde ich zu der Analyse von Valerie Steele gerne etwas ergänzen.  In ihrem Werk „Warum die Liebe weh tut“ argumentiert Eva Illouz, dass Schönheit und sinnliche Anziehungskraft in der patriarchalischen Gesellschaft über Jahrhunderte so etwas wie ein „erotisches Kapital“ darstellten. Diese auf dem Heiratsmarkt und in illegitimen Liaisons bewusst eingesetzte Währung ermöglichte es Frauen, einen sonst unzugänglichen ökonomischen oder sozialen Status zu erreichen. Bei diesem Tauschhandel wurden ihre sexuellen Bedürfnisse nur angedeutet und blieben oft unbefriedigt, was mit mangelndem Wissen über die weibliche Sexualität und mit rigiden Moralvorstellungen zusammenhing, welche die Sexualität nur innerhalb der Ehe legitimierten. Dennoch waren zumindest die Bindungswünsche der Frauen anerkannt und mit der Rolle der Ehefrau und Mutter ging  soziale Anerkennung einher.

Edmund Blair Leighton - Signing The Register
Edmund Blair Leighton 1920 – Signing The Wedding Register

 

Erotische Freiheit und fehlende Selbstbestimmung

Heute ist die Situation anders. Das fundierte Wissen über weibliche Sexualität ist vorhanden und gut zugänglich und die Einschränkungen der Religion sind weggefallen. Wie steht es aber um die weibliche Selbstbestimmung in den intimen Beziehungen in dieser neuen Epoche der Befreiung? Eva Illouz ist überzeugt, dass Frauen die grossen Verliererinnen der sexuellen Revolution sind. Sie haben heute zwar einen besseren Zugang zu Bildung und grössere Chancen auf beruflichen Erfolg, dennoch bleiben die grossen Reichtümer und somit die ökonomische Macht der Männer immer noch unangetastet. Die Tatsache, dass die Sexualität aus den Schranken der Ehe befreit wurde, Frauen aber ökonomisch benachteiligt blieben, half den Männern in den letzten 50 Jahren eine neue sexuelle Kultur herauszubilden, die sich vor allem an ihren Bedürfnissen nach Abwechslung, Bindungslosigkeit und Sexyness orientiert. Innerhalb dieser Kultur, die nach den Prinzipien des kapitalistischen Markts von Angebot und Nachfrage funktioniert, sind Frauen einer starken Konkurrenz untereinander ausgesetzt und haben keine Druckmittel um sich den männlichen Normen und Bedürfnissen zu entziehen. «Die Sexualität zu befreien, ohne die wirtschaftliche und politische Macht der Männer anzutasten, bedeutet, Frauen auf einem offenen und deregulierten Markt in eine strukturell prekäre Lage zu bringen.» – sagt Eva Illouz im Interview für Philosophie Magazin Nr.3/2018.

Pool Billard
Billiard-Spieler. Bild: Ewald Vorberg

Auch die junge Philosophin Margret Stokowski kommt in ihrem Buch «Untenrum frei» zu ähnlicher Schlussfolgerung: «Während wir glauben, wir hätten die Fesseln des Patriarchats längst gesprengt, haben wir nur gelernt in ihnen shoppen zu gehen». Dabei bezieht sie sich auf die Tatsache, dass sehr viele Frauen in den erotischen Begegnungen immer noch auf ihr erotisches Vergnügen verzichten. Dies bestätigen Psychologinnen und Sexologinnen wie Martha Meana, Peggy Orenstein, Tabea Freitag und Sandra Konrad, die sowohl mit reifen als auch mit jungen Frauen arbeiten. Die Forscherinnen machen darauf aufmerksam, dass vielen Frauen von heute der Zugang zum eigenen sinnlichen Empfinden fehlt. Oft wissen sie kaum, was sie wollen, und lassen sich deshalb auf sexuelle Praktiken ein, die ihnen keinen Spass bereiten. Sie täuschen den Männern ihre Erregung vor und stellen das eigene Vergnügen hintenan. Woran liegt es, dass viele Frauen selbst nach der sexuellen Revolution so bereitwillig Männer befriedigen und so wenig Engagement für die Erfüllung ihrer eigenen sexuellen Wünsche zeigen?

Psychologische Forschungen nennen unterschiedliche Gründe. Erstens sind viele Frauen immer noch überzeugt, dass sie durch sexuelle Unterwerfung das Interesse des Mannes gewinnen oder dieses erfolgreich aufrechterhalten können. Insbesondere, wenn es um die erste Verliebtheit geht, steht die Sexualität im Dienst der Bindung und wird unbewusst instrumentalisiert. Hier ist das eigene Vergnügen noch involviert, aber das erotische Potential wird oft nicht ausgeschöpft, weil Mädchen ihre Climax und all das, was zu ihr führen könnte, von ihren jungen Partnern nicht einzufordern wissen. Auch in Langzeitbeziehungen kommen viele Frauen nicht auf ihre Kosten, weil ihnen die Lust mit den Jahren abhandenkommt. Gefangen in dem Modell der monogamen Ehe, verzichten sie auf erregende Abenteuer und zwingen sich, die eheliche Pflicht auch ohne Lust zu erfüllen.

ein-hochzeitspaar-web
Ein Hochzeitspaar. Roberto Donetta 1922

Als zweite Gruppe der Motive, weshalb Frauen auf die männlichen sexuellen Wünsche reagieren, auch wenn sie selbst dabei nicht erregt sind, nennen die Forscher Befriedigung unterschiedlicher sozialer Bedürfnisse. In vielen persönlichen Interviews und Fragebogen mit Heranwachsenden zeigt sich, dass vor allem Fellatio eine verbreitete Praktik ist, die nur von den Männern mit körperlicher Lust betrieben wird. Junge Frauen hingegen schildern sie als eine „unpersönliche Angelegenheit“ und sie vergleichen Oralverkehr sogar mit einem Zahlungsmittel, das ihnen besondere Dienste leistet. Ganz anders als vor 30 Jahren, als orale Stimulation noch als Zeichen einer ganz grossen Intimität galt.

Die Befragungen von Jugendlichen zeigen zwei Hauptmotive, weshalb junge Frauen Männer oral befriedigen, selbst wenn sie dabei weder emotionell engagiert noch erregt sind. Einerseits versuchen sie damit in Situationen grossen Drucks – bis hin zur Erpressung – den Partner mit oralem Sex zu besänftigen, ohne in den Geschlechtsverkehr einwilligen zu müssen. Die Häufigkeit, mit welcher sie diese Strategie anwenden, deutet daraufhin, dass männliche Dominanz im heutigen Dating sehr oft vorkommt und es den Frauen an anderen Mitteln, damit umzugehen, komplett fehlt. Zudem gibt es, aller Aufklärung zum Trotz, heute noch Frauen, die glauben, dass Männer aufgrund der hormonellen Unterschiede von der sexuellen Spannung befreit werden müssen und dass Verantwortung dafür einer Frau obliegt. Als zweites Motiv für ihre Fügsamkeit führen viele Mädchen an, dass eine Einwilligung in Fellatio ihnen „die richtige Art der Popularität“ unter den Männern einbringt und ihren Status in der Peer-Gruppe erhöht. Offenbar setzt hier die von Männern produzierte Pornografie bereits im Alltag die Standards dafür, was Frau für einen Mann interessant macht.

Gefragt nach ihrem eigenen Empfinden geben Mädchen zu, dass sie bei solchen Praktiken keinen wirklichen Spass haben. „But it’s definitely not the physical side of it, because that’s so gross and it really hurts my throat. I mean, it’s sort of fun getting in the rhythm of it. But it’s never fun fun”, meinte eine 18-Jährige, die von Peggy Orenstein interviewt wurde. Diese Haltung unterstützen bedauerlicherweise zahlreiche Frauenzeitschriften, indem sie nicht nur einfache Tipps für Fellatio abgeben, sondern auch – wie z.B. in der Online- Version von Glamour und Freundin – Frauen belehren, wie es möglich ist, sogar den Würgereflex abzutrainieren, um den berühmten „Job“ besser zu verrichten.

„Würde die Menschheit dieselben Anstrengungen in die Raumfahrt stecken, wie die Redaktionen von Frauenzeitschriften in Blowjob-Ratgeber, könnten wir längst zum Kaffeetrinken auf den Mars“ – bringt es Margret Stokowski auf den Punkt.

Auch ich betrachte die gegenwärtige Situation als höchst problematisch und alarmierend. Das grösste Potential der Sexualität liegt in der Reziprozität! Sexuelle Praktiken, in welchen männliche Bedürfnisse nach sexuellem Vergnügen selbstverständlich befriedigt werden, während die Frau ihre körperlichen und emotionalen Empfindungen gänzlich abspalten muss, um daraus irgendeinen sekundären psychischen oder sozialen Nutzen zu ziehen, kreieren ein ungesundes strukturelles Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern. Sie entfremden beide Agierende vom Glückspotential, das einer reziproken erotischen Begegnung innewohnt. Eine derartige Instrumentalisierung der weiblichen Sexualität untergräbt zudem die Integrität der Frau und zementiert die patriarchalen Gesellschaftsstrukturen.

Bild 11

 

“Orgasm is a human right”

Die erotische Anziehung zwischen den Menschen ist eine Urkraft. Von Anbeginn meiner Arbeit als Korsettdesignerin habe ich mich als Botschafterin dieser Kraft verstanden. Meine Korsetts sind dazu bestimmt, in den heterosexuellen Beziehungen die weibliche Verführungskraft zu bestärken. In meinen Kreationen sehen Frauen so aus, wie sie es sich wünschen und wie das männliche Auge es erträumt. Der begehrende Blick eines Mannes vermag dafür die weiblichen Sinne anzuregen. Hier stehen sich beide Geschlechter in ihrer vollen Potenz als gleich starke Wesen gegenüber. «Potent zu seinbedeutet, von der Möglichkeit in die Aktivität zu kommen», sagt Philosophin Svenja Flasspöhler in ihrem Essay «Die potente Frau» und sie fordert dazu auf, den in unserer Kulturgeschichte männlich konnotierten Begriff der Potenz neu zu definieren. Dies könnte damit beginnen, dass Frauen sich dazu entscheiden, ihr sexuelles Vergnügen aktiv einzufordern und darauf zu beharren, dass ihr Potenzial in sinnlichen Begegnungen sowohl Entfaltung als auch Kulmination findet.

Literatur:

The corset. A cultural history. – Valerie Steele
Warum Liebe weh tut. – Eva Illouz, Surkamp 2016
Girls & Sex: Navigating the Complicated New Landscape.– Peggy Orenstein, Paperback 2017
Die versteckte Lust der Frauen. – Daniel Bergner, Knaus 2014
Emotionale Gewalt durch Pornografie und frühe Sexualisierung. -Tabea Freitag in: Bindung und emotionale Gewalt – Karl Heinz Brisch(Hrsg.), Klett-Cotta 2017
Das beherrschte Geschlecht. – Sandra Konrad, Piper 2017
Untenrum frei. – Margret Stokowski, Rowohlt 2017
Die potente Frau: eine neue Weiblichkeit. – Svenja  Flasspöhler, Ullstein Verlag 2018

Eine Lesung zu dem Thema „Von Freiheit zur Selbstbestimmung“ veranstalte ich zusammen mit Julia Knapp am 9. Februar 2019. Weitere Informationen finden Sie hier.

„Paradies im Boudoir?“ – Salonbericht Teil 1

 

pesne-trompetina
La Trompetina – Antoine Pesne, Sammlung August Ohmm

„Die Natur muss wohl in sich unvollkommen sein, wenn sie uns eine Neigung eingibt, die das Gesetzt verdammt. Oder das Gesetz ist ein zu strenges Gesetzt, wenn er eine Neigung verdammt, die uns die Natur eingibt.“  Dreux du Radier, Dictionaire d`amour.

Die ersten Texte des Salons vom 14. Januar einführten uns in das Zeitalter des Rokokos. Vier hypothetische Briefe zwischen zwei literarischen Gestalten – dem Graf Valmont und der Fanny Hill beinhalten authentische Informationen über die erotische Kultur der Epoche und die Philosophie des Libertinismus. Durch das ungehemmte Ausleben der Sexualität will Libertinismus den von der Aufklärung errungenen Anspruch des Menschen auf irdisches Glück einlösen. In den Briefen werden Begegnungen erwähnt, die ausschliesslich auf die Befriedigung der sinnlichen Lust ausgerichtet sind. Das ist typisch für Libertinismus, der in den starken Gefühlen der Zuneigung eine Gefahr der geistigen Verwirrung sah und versuchte das Risiko des Leidens dadurch zu mindern, dass er die Liebe auf pure Sexualität reduzierte. (1)
Auch heute noch kann die erotische Literatur – die Tagebücher und Korrespondenzen und die erotische Kunst des 18.Jh. – Zündstoff für unsere Fantasie bieten. Wir können uns dabei die Frage stellen, unter welchen Umständen wir bereit sind, den Trieben, unabhängig von der Liebe, nachzugeben und was wir  dabei gewinnen. Welche Sehnsucht wird angesichts der lustvollen Szenarien lebendig ? Gleichzeitig empfinden einige von uns ein Unbehagen, insbesondere wenn diese Fantasie zum Programm wird. Wofür stehen unsere Befürchtungen ein?

17ven
Christophé 1916, „Venus und Tannhäuser“, Sammlung Hans-Jürgen Döpp

 

In der heutigen Zeit finden wir ein Übermass an Angeboten für einen unverbindlichen Sex mit Unbekannten. Sowohl in den Annoncen als auch in direkten Begegnungen von Mann und Frau, wird oft eine Trennung der Sexualität von Gefühlen als erstrebenswert und als psychologisch realistisch angesehen. Diese Trennung zielt, meiner Ansicht nach, darauf ab den möglichen emotionellen Schmerz des allfälligen Verlustes oder die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Du zu vermeiden. Darin sehe ich eine Ähnlichkeit zwischen der heutigen Zeit und dem Libertinismus des 18 Jh. Es ist erstaunlich, dass sich in Bezug auf diese Angst vor der emotionellen Verletzung seit Jahrhunderten so wenig in unserer Kultur verändert hat.

1750frenchengraving-korr
Radierung aus dem 1750, Sammlung: Hans-Jürgen Döpp

Gleichzeitig scheint mir die erotische Kultur des Rokokos sich durch mindestens zwei Elemente von der modernen Promiskuität zu unterscheiden. Zum einen zeigt sie grössere Fantasie und Ästhetik in der Gestaltung der luststeigernden Rituale – es werden alle Sinne mit einbezogen und es fehlt nicht an Rollenspielen und raffinierten theatralischen Szenarien – zum anderen spielen sich die Rituale im Kreise sich kennender Menschen, die der gleichen Gesellschaftsschicht – dem Adel – angehören. Promiskuität dürfte in diesem Fall ihre ursprüngliche Bedeutung feiern, die sie noch in der neolithischen Zeit hatte – die Stärkung der Zusammengehörigkeit. Mit diesem Aspekt sich heute anzufreunden, dürfte eine schwierigere Herausforderung sein, als die Gefühle und dem Trieb zu trennen.

20101126170552_00001
Emile Wattier, Das kleine Abendmahl des Regenten

Die Zeit der Aufklärung brachte auch eine intensive medizinische Auseinandersetzung mit den gesundheitlichen Aspekten der Sexualität, deren Echo wir in den zwei letzten Briefen hören. Die Wichtigkeit der sexuellen Erfüllung der Frau wird anerkannt und es wird ihr oft das grössere erotische Potential zugesprochen. Grund dafür sollte die Beschaffung der Organe sein, welche keine natürliche Grenze darstellt. Obwohl in Ansätzen fortschrittlich, zeugt der Diskurs noch immer von einer vorherrschenden Furcht vor der weiblichen Sexualität und generell vor Sinnlichkeit. Der Konflikt zwischen den Folgen der übermässigen Lust auf der einen Seite und der Enthaltsamkeit auf der anderen, wurde von den Medizinern dadurch gelöst, dass sie die Sinnlichkeit in die Schranken der Ehe verwiesen. (2)

 

Literaturnachweis:

1,2)« Paradies im Boudoir – Glanz und Elend der erotischen Libertinage im Zeitalter der Aufklärung » – Peter Prange, Marburg 1990
Bei der Lesung vom 14. Januar wurden ausserdem Fragmente aus folgenden Büchern berücksichtigt:

«Fanny Hill, Erlebnisse eines Freudenmädchens. John Cleland, 1749
« Gefährliche Liebschaften – Frankreich zu Zeiten der Libertins « Jacqueline Queneau, Jean-Yves Patte, 2002
« Correspondance de Madame Gourdan «, Anonym (Madame Gourdan, dite La Comtesse)