„…In der letzten Zeit empfinde ich immer stärker eine Sorge um das Schicksal der Leidenschaft. Ich möchte jetzt kurz schildern worauf diese Besorgnis beruht. Die Gründe sind psychologischer und gesellschaftlicher Natur.
In der Psychologie beobachte ich folgende beunruhigende Phänomene:
- Autonomie und Unabhängigkeit werden in Definitionen der gesunden Psyche favorisiert. Die menschliche Entwicklung wird als ein linearer Prozess definiert, in dem wir uns aus kindlicher Abhängigkeit zu reifer Unabhängigkeit entfalten – Sein selbst mit dem eines anderen zu verschmelzen, verletzlich zu sein oder gar sich jemandem zu unterwerfen gilt somit schnell als Anzeichen einer emotionalen Pathologie.
- Die Fähigkeit die eigenen Interessen in Beziehungen zu wahren ist zum Synonym für psychische Gesundheit geworden. Deshalb wird eine unerwiderte oder unmögliche Liebe, die Schmerz bereitet, als Irrtum Eva Illouz sagt dazu ironisch: „Gut zu lieben, heisst heute, seinen eigenen Interessen gemäss zu lieben“.
- Die von der Psychoanalyse und dynamischen Psychologie ausgehende Überzeugung, dass Liebe lediglich eine Reinszenierung frühkindlicher Dramen ist, beraubt sie ihres kulturellen Status einer mystischen Kraft. Damit geht ihre Unbeschreiblichkeit und ihr Geheimnis verloren. Die Liebe wird zum Gegenstand endloser Selbsterkenntnis, Selbstprüfung und zur Goldgrube für Psychotherapeuten (Seelenklempner).
- Persönlichkeiten werden durch ein Bündel fester Attribute erfasst und es wird angenommen, dass bei einer Übereinstimmung bestimmter Attribute die Wahrscheinlichkeit von Liebe steigt und das Risiko einer Enttäuschung sinkt. Damit wird Liebe zum Gegenstand der Metrik. Beweise dafür sind die Partnersuche-Plattformen und Bücher wie „Die Mathematik der Liebe“ Hannah Frey, „Die vier Typen der Liebe“ Helen Fisher.
- Zudem empfinde ich ein grosses Unbehagen gegenüber einer zunehmenden Kultur, die die Entstehung von Gefühlen der Nähe und Bindung bei sexuellen Begegnungen vermeidet und dies als erstrebenswert anpreist. (Pick up Communities).
Zusammenfassend:
Ich sehe heute einen psychologischen und sexuellen Utilitarismus, der stets auf ein Maximum von Genuss und Wohlbefinden aus ist. Gleichzeitig sehne ich mich nach Menschen, die fühlten wie Felix in Balsac`s „Lilie im Tal“ der behauptet, „Ohne Hoffnung zu lieben ist immer noch ein Glück“ oder Erich Maria Remarque in seinem Brief an Marlene Dietrich, den uns Mark heute vorlesen wird: „Es ist nicht auszuhalten und wunderbar!“
Wo ist diese Art des Liebens geblieben? Gibt es sie noch – die verzauberte Liebe die Schmerz erträgt – die „verzauberte“ Liebe? Jene Liebe, die das selbst in seiner Ganzheit einbezieht, mobilisiert und überwältigt soll Thema des heutigen Abends sein.
Ich habe mir bei der Auswahl der Texte die Frage gestellt, die ich gerne kurz in diese Runde einbringen möchte:
Welches sind die wichtigsten Aspekte oder Kennzeichen der verzauberten/ leidenschaftlichen Liebe?
Ich definiere sie nach Ortega y Gasset und nach Eva Illouz wie folgt:
- Heiligkeit des Objekts – der Geliebte/die Geliebte wird auf ein Podest gestellt und als göttliche Gestalt gesehen…dies werden wir heute vor allem in den Briefen von Erich Maria Remarque erleben
- Irrationalität – Unmöglichkeit die Liebe zu begründen oder zu erklären, oder sich ihr zu entziehen – Julia wird uns in den Briefen der Ninon eine Reflexion der Saloniere aus dem 18 Jh vorbringen – „Das Verdienst der geliebten Person ist nur ein Scheingrund, nie eine Ursache der Liebe“
- Überwältigung – Eine Erfahrung, die die ganze Realität des liebenden ergreift – Annais Nin und Henry Miller sind hier die besten Beispiele
- Verschmelzung – keine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt – Remarque der behauptet sein ganzes Leben, wie eine Pyramide auf das Herz der Marlene Dietrich gestellt zu haben…
- Preisgabe des Eigeninteresses – Remarque: „es ist doch mein Glück, dass Du mich brauchst“
- Abwesenheit von Autonomie (Remarque – „ich bin dir treu und es fehlt mir nicht einmal schwer“, Henry Miller – „ich würde dich gern betrügen aber ich kann nicht“)
Literaturliste zum Salon der Phlosophie des Eros vom 29.10. 2016
Aus folgenden Bücher wurde vorgelesen:
Briefe der Leidenschaft. – Anais Nin Henry Miller, Scherzverlag 1989
Henry, June und ich. Ein intimes Tagebuch. – Anais Nin, Scherzverlag 1987
‚Sag mir, dass Du mich liebst…’Zeugnisse einer Leidenschaft – Marlene Dietrich, Erich-Maria Remarque, Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2001
Briefe der Ninon de Lenclos. – Ninon de Lenclos, Insel Verlag 1989
Bücher und Interviews, die mich zu vertiefter Reflexion über “Liebe als Reichtum und süsse Last“ veranlassten und die in meine Ansprache eingeflossen sind:
Warum Liebe weh tut. – Eva Illouz, Surkamp 2016
Ware Liebe und wahre Liebe – Eva Illouz im Gespräch mit Barbara Bleisch, 2.6.2013, SFR, Strenstunde Philosophie
A General Theory of Love. – Thomas Lewis, Fari Amini, Richard Lannon, Vintage 2001
Liebesbriefe grosser Männer. – Sabine Anders, Katharina Maier, Marix Verlag
Liebesbriefe grosser Frauen. – Sabine Anders, Katharina Maier, Marix Verlag
Briefe 1925-1975. – Hannah Arendt, Martin Heidegger, Klostermann 2013
Feuer – Die unzensierten Pariser Tagebücher. – Anais Nin, Scherz 1995
Liebe und Wille. – Rollo May, EHP 2015
Bonding Psychotherapie. – Konrad Stauss Tradition, Hamburg 2015
Über die Liebe. – Jose Ortega y Gasset, Deutsche Verlags-Anstalt 1933
Bericht der Salon-Diskussion finden Sie hier.