
Es freut mich immer nach dem Salon die Feedbacks der Gäste zu lesen. Die handgeschriebene Karte von Cornelia W. hat mich besonders berührt. Sie knüpft direkt an unsere Diskussion über flüchtige Begegnungs-Momente auf der Strasse und an meine Erzähung über eine fesselnde Begegnung im Warschauer Traum in der Zeit meines Psychologie-Studiums. Meine Erzählung erinnerte Cornelia an die Zeilen Baudelaires, die ich nicht kannte. In dem Gedicht wird ein Mann vom Blitz der Liebe getroffen, als er die Frau erblickt, die anmutig den Saum ihres Kleides hält…
An eine, die vorüberging – Charles Baudelaire
Der Straßenlärm betäubend zu mir drang.
In großer Trauer, schlank, von Schmerz gestrafft,
Schritt eine Frau vorbei, die mit der Hand gerafft
Den Saum des Kleides hob, der glockig schwang;
Anmutig, wie gemeißelt war das Bein.
Und ich, erstarrt, wie außer mich gebracht,
Vom Himmel ihrer Augen, wo ein Sturm erwacht,
Sog Süße, die betört, und Lust, die tötet, ein.
Ein Blitz … dann Nacht! – Du Schöne, mir verloren,
Durch deren Blitz ich jählings neu geboren,
Werd in der Ewigkeit ich dich erst wiedersehn?
Woanders, weit von hier! zu spät! soll’s nie geschehn?
Dein Ziel ist mir und dir das meine unbekannt,
Dich hätte ich geliebt, und du hast es geahnt!
À une passante
La rue assourdissante autour de moi hurlait.
Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse,
Une femme passa, d’une main fastueuse
Soulevant, balançant le feston et l’ourlet;
Agile et noble, avec sa jambe de statue.
Moi, je buvais, crispé comme un extravagant,
Dans son oeil, ciel livide où germe l’ouragan,
La douceur qui fascine et le plaisir qui tue.
Un éclair… puis la nuit! — Fugitive beauté
Dont le regard m’a fait soudainement renaître,
Ne te verrai-je plus que dans l’éternité?
Ailleurs, bien loin d’ici! trop tard! jamais peut-être!
Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais,
Ô toi que j’eusse aimée, ô toi qui le savais!

Das Gedicht von Baudelaire erinnerte mich an Marcel Proust, der sein Lebens Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ der Sehnsucht nach Liebe gewidmet hat. Auf mehreren Seiten beschreibt er die flüchtigen Begegnungen, welche ein starkes Begehren auslösen, das durch die Unerreichbarkeit des Objektes verstärkt wird. Dabei gilt das Verlangen nie ausschliesslich dem Körper, sondern sucht das Wesen der Person zu durchdringen. Ich habe die sechs Bände als 22-jährige gelesen aber erst heute erschliesst sich mir der Sinn des gesamten Romans. Ich teile mit Euch die Fragmente, die ich mir damals, in der Zeit grosser Sehnsucht nach einer Liebesbegegnung, angestrichen habe…
“Ich wußte, daß ich diese junge Frau nicht besitzen würde, besäße ich nicht auch das, was in ihren Augen war. Und so war es infolgedessen ihr ganzes Leben, das meine Begierde erregte; eine Begier, die schmerzlich war, weil sie, ich fühlte es, nicht zu befriedigen war, doch auch berauschend, weil das, was so lange mein Leben gewesen, mit einem Schlage aufgehört hatte, mein ganzes Leben zu sein, und nicht mehr als ein kleiner Teil der Fläche, welche sich da vor mir dehnte, war – der Fläche, die ich ungeduldig brannte zu durchmessen, denn sie war aus dem Leben dieser jungen Mädchen gemacht, und sie versprach mir jene mögliche Verlängerung, Vervielfältigung seiner selbst, die das Glück ist.”

„War es, weil ich nur flüchtig sie bemerkt hatte, daß sie für mich so schön erschienen war? Vielleicht. Zuvörderst: daß es unmöglich ist, bei einer Frau sich aufzuhalten, daß die Gefahr besteht, an einem andern Tage sie nicht wieder zu treffen, teilt ihr mit einem Male das Verlockende mit, das einem Lande Krankheit oder Armut verleihen, die uns hindern, es zu besuchen, oder den glanzlosen Jahren, welche uns noch zu leben bleiben, der Kampf, in dem wir ohne Zweifel unterliegen. Und wäre die Gewohnheit nicht, so müßte dergestalt das Leben jenen Wesen, die jede Stunde vom Tode bedroht sind, – will sagen allen Menschen –hinreißend erscheinen. Wenn fernerhin die Phantasie vom Drang nach dem, was wir nicht besitzen können, beschwingt ist, bricht ihr Elan sich nicht an einer Wirklichkeit, wie sie vollständig, unverstellt in einer jener Begegnungen uns erscheinen würde; ist doch der Charme einer Vorübergehenden gewöhnlich direkt der Schnelligkeit ihres Vorüberkommens proportional.“

Wir hatten uns anlässlich des Textes “Paradies im Boudoir” gefragt ob es angebracht ist einem solchen unmitelbaren Begheren zu folgen. Mündet es nicht zwandsläufig in Enttäuschung? Marcel Proust hält für uns eine anekdotische Antwort bereit…
“Wenn ich hätte absteigen und mit dem Mädchen, das wir gekreuzt hatten, hätte sprechen können, so wäre ich vielleicht durch einen Fehler ihres Teints, den ich vom Wagen aus nicht bemerkt hatte, aus meiner Illusion gerissen worden. Vielleicht hätte ein einziges Wort von ihr oder ein Lächeln mir einen Schlüssel, eine unerwartete Chiffre gegeben, so daß ich ihren Ausdruck in Gesicht und Schritt hätte lesen können, und der wäre dann augenblicks banal geworden. Es ist möglich, denn nie habe ich so begehrenswerte Mädchen je im Leben gefunden wie an den Tagen, an welchen ich mit irgendeiner gewichtigen Persönlichkeit zusammen war, die ich trotz Vorwänden, welche ich ersann, nicht verlassen konnte; einige Jahre nachdem ich zum ersten Male in Balbec gewesen war, fuhr ich mit einem Freunde meines Vaters in Paris im Wagen aus, und da bemerkte ich eine Frau, die schnell in der Nacht ausschritt. Ich dachte, es sei Wahnsinn, aus Schicklichkeitsgründen meinen Anteil am Glück in dem – unbedingt einzigen – Leben, das ist, zu verlieren, sprang aus dem Wagen, ohne um Entschuldigung zu bitten, machte mich ans Verfolgen jener Unbekannten, verlor sie an der Kreuzung zweier Straßen aus den Augen und fand in einer dritten endlich mich ganz außer Atem im Licht einer Gaslaterne der alten Frau Verdurin gegenüber, die von mir gemieden wurde, wo ich nur konnte, und nun in glücklicher Überraschung ausrief: »O wie reizend von Ihnen, daß Sie gerannt sind, um mir guten Tag zu sagen.«
Marcel Proust, „Im Schatten junger Mädchenblüte“, übersetzt von Walter Benjamin und Franz Hessel
