Passage du désir

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Karte von Cornelia nach dem Salon vom 14. Januar 2017

Es freut mich immer nach dem Salon die Feedbacks der Gäste zu lesen. Die handgeschriebene Karte von Cornelia W. hat mich besonders berührt. Sie knüpft direkt an unsere Diskussion über flüchtige Begegnungs-Momente auf der Strasse und an meine Erzähung über eine fesselnde Begegnung im Warschauer Traum in der Zeit meines Psychologie-Studiums. Meine Erzählung erinnerte Cornelia an die Zeilen Baudelaires, die ich nicht kannte. In dem Gedicht wird ein Mann vom Blitz der Liebe getroffen, als er die Frau erblickt, die anmutig den Saum ihres Kleides hält…

An eine, die vorüberging – Charles Baudelaire

Der Straßenlärm betäubend zu mir drang.
In großer Trauer, schlank, von Schmerz gestrafft,
Schritt eine Frau vorbei, die mit der Hand gerafft
Den Saum des Kleides hob, der glockig schwang;

Anmutig, wie gemeißelt war das Bein.
Und ich, erstarrt, wie außer mich gebracht,
Vom Himmel ihrer Augen, wo ein Sturm erwacht,
Sog Süße, die betört, und Lust, die tötet, ein.

Ein Blitz … dann Nacht! – Du Schöne, mir verloren,
Durch deren Blitz ich jählings neu geboren,
Werd in der Ewigkeit ich dich erst wiedersehn?

Woanders, weit von hier! zu spät! soll’s nie geschehn?
Dein Ziel ist mir und dir das meine unbekannt,
Dich hätte ich geliebt, und du hast es geahnt!

À une passante

La rue assourdissante autour de moi hurlait.
Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse,
Une femme passa, d’une main fastueuse
Soulevant, balançant le feston et l’ourlet;

Agile et noble, avec sa jambe de statue.
Moi, je buvais, crispé comme un extravagant,
Dans son oeil, ciel livide où germe l’ouragan,
La douceur qui fascine et le plaisir qui tue.

Un éclair… puis la nuit! — Fugitive beauté
Dont le regard m’a fait soudainement renaître,
Ne te verrai-je plus que dans l’éternité?

Ailleurs, bien loin d’ici! trop tard! jamais peut-être!
Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais,
Ô toi que j’eusse aimée, ô toi qui le savais!

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Paris, Monmartre, 2010, Bild: Beata Sievi

Das Gedicht von Baudelaire erinnerte mich an Marcel Proust, der sein Lebens Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ der Sehnsucht nach Liebe gewidmet hat. Auf mehreren Seiten beschreibt er die flüchtigen Begegnungen, welche ein starkes Begehren auslösen, das durch die Unerreichbarkeit des Objektes verstärkt wird. Dabei gilt das Verlangen nie ausschliesslich dem Körper, sondern sucht das Wesen der Person zu durchdringen. Ich habe die sechs Bände als 22-jährige gelesen aber erst heute erschliesst sich mir der Sinn des gesamten Romans. Ich teile mit Euch die Fragmente, die ich mir damals, in der Zeit grosser Sehnsucht nach einer Liebesbegegnung, angestrichen habe…

“Ich wußte, daß ich diese junge Frau nicht besitzen würde, besäße ich nicht auch das, was in ihren Augen war. Und so war es infolgedessen ihr ganzes Leben, das meine Begierde erregte; eine Begier, die schmerzlich war, weil sie, ich fühlte es, nicht zu befriedigen war, doch auch berauschend, weil das, was so lange mein Leben gewesen, mit einem Schlage aufgehört hatte, mein ganzes Leben zu sein, und nicht mehr als ein kleiner Teil der Fläche, welche sich da vor mir dehnte, war – der Fläche, die ich ungeduldig brannte zu durchmessen, denn sie war aus dem Leben dieser jungen Mädchen gemacht, und sie versprach mir jene mögliche Verlängerung, Vervielfältigung seiner selbst, die das Glück ist.”

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Paris 2010, Bild: Beata Sievi

„War es, weil ich nur flüchtig sie bemerkt hatte, daß sie für mich so schön erschienen war? Vielleicht. Zuvörderst: daß es unmöglich ist, bei einer Frau sich aufzuhalten, daß die Gefahr besteht, an einem andern Tage sie nicht wieder zu treffen, teilt ihr mit einem Male das Verlockende mit, das einem Lande Krankheit oder Armut verleihen, die uns hindern, es zu besuchen, oder den glanzlosen Jahren, welche uns noch zu leben bleiben, der Kampf, in dem wir ohne Zweifel unterliegen. Und wäre die Gewohnheit nicht, so müßte dergestalt das Leben jenen Wesen, die jede Stunde vom Tode bedroht sind, – will sagen allen Menschen –hinreißend erscheinen. Wenn fernerhin die Phantasie vom Drang nach dem, was wir nicht besitzen können, beschwingt ist, bricht ihr Elan sich nicht an einer Wirklichkeit, wie sie vollständig, unverstellt in einer jener Begegnungen uns erscheinen würde; ist doch der Charme einer Vorübergehenden gewöhnlich direkt der Schnelligkeit ihres Vorüberkommens proportional.“

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Paris, Passage du Desir, Bild: Beata Sievi

Wir hatten uns anlässlich des Textes “Paradies im Boudoir” gefragt ob es angebracht ist einem solchen unmitelbaren Begheren zu folgen. Mündet es nicht zwandsläufig in Enttäuschung? Marcel Proust hält für uns eine anekdotische Antwort bereit…

“Wenn ich hätte absteigen und mit dem Mädchen, das wir gekreuzt hatten, hätte sprechen können, so wäre ich vielleicht durch einen Fehler ihres Teints, den ich vom Wagen aus nicht bemerkt hatte, aus meiner Illusion gerissen worden. Vielleicht hätte ein einziges Wort von ihr oder ein Lächeln mir einen Schlüssel, eine unerwartete Chiffre gegeben, so daß ich ihren Ausdruck in Gesicht und Schritt hätte lesen können, und der wäre dann augenblicks banal geworden. Es ist möglich, denn nie habe ich so begehrenswerte Mädchen je im Leben gefunden wie an den Tagen, an welchen ich mit irgendeiner gewichtigen Persönlichkeit zusammen war, die ich trotz Vorwänden, welche ich ersann, nicht verlassen konnte; einige Jahre nachdem ich zum ersten Male in Balbec gewesen war, fuhr ich mit einem Freunde meines Vaters in Paris im Wagen aus, und da bemerkte ich eine Frau, die schnell in der Nacht ausschritt. Ich dachte, es sei Wahnsinn, aus Schicklichkeitsgründen meinen Anteil am Glück in dem – unbedingt einzigen – Leben, das ist, zu verlieren, sprang aus dem Wagen, ohne um Entschuldigung zu bitten, machte mich ans Verfolgen jener Unbekannten, verlor sie an der Kreuzung zweier Straßen aus den Augen und fand in einer dritten endlich mich ganz außer Atem im Licht einer Gaslaterne der alten Frau Verdurin gegenüber, die von mir gemieden wurde, wo ich nur konnte, und nun in glücklicher Überraschung ausrief: »O wie reizend von Ihnen, daß Sie gerannt sind, um mir guten Tag zu sagen.«

Marcel Proust, „Im Schatten junger Mädchenblüte“, übersetzt von Walter Benjamin und Franz Hessel

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Paris 2010, Bild: Beata Sievi

 

 

„Paradies im Boudoir?“ – Salonbericht Teil 1

 

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La Trompetina – Antoine Pesne, Sammlung August Ohmm

„Die Natur muss wohl in sich unvollkommen sein, wenn sie uns eine Neigung eingibt, die das Gesetzt verdammt. Oder das Gesetz ist ein zu strenges Gesetzt, wenn er eine Neigung verdammt, die uns die Natur eingibt.“  Dreux du Radier, Dictionaire d`amour.

Die ersten Texte des Salons vom 14. Januar einführten uns in das Zeitalter des Rokokos. Vier hypothetische Briefe zwischen zwei literarischen Gestalten – dem Graf Valmont und der Fanny Hill beinhalten authentische Informationen über die erotische Kultur der Epoche und die Philosophie des Libertinismus. Durch das ungehemmte Ausleben der Sexualität will Libertinismus den von der Aufklärung errungenen Anspruch des Menschen auf irdisches Glück einlösen. In den Briefen werden Begegnungen erwähnt, die ausschliesslich auf die Befriedigung der sinnlichen Lust ausgerichtet sind. Das ist typisch für Libertinismus, der in den starken Gefühlen der Zuneigung eine Gefahr der geistigen Verwirrung sah und versuchte das Risiko des Leidens dadurch zu mindern, dass er die Liebe auf pure Sexualität reduzierte. (1)
Auch heute noch kann die erotische Literatur – die Tagebücher und Korrespondenzen und die erotische Kunst des 18.Jh. – Zündstoff für unsere Fantasie bieten. Wir können uns dabei die Frage stellen, unter welchen Umständen wir bereit sind, den Trieben, unabhängig von der Liebe, nachzugeben und was wir  dabei gewinnen. Welche Sehnsucht wird angesichts der lustvollen Szenarien lebendig ? Gleichzeitig empfinden einige von uns ein Unbehagen, insbesondere wenn diese Fantasie zum Programm wird. Wofür stehen unsere Befürchtungen ein?

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Christophé 1916, „Venus und Tannhäuser“, Sammlung Hans-Jürgen Döpp

 

In der heutigen Zeit finden wir ein Übermass an Angeboten für einen unverbindlichen Sex mit Unbekannten. Sowohl in den Annoncen als auch in direkten Begegnungen von Mann und Frau, wird oft eine Trennung der Sexualität von Gefühlen als erstrebenswert und als psychologisch realistisch angesehen. Diese Trennung zielt, meiner Ansicht nach, darauf ab den möglichen emotionellen Schmerz des allfälligen Verlustes oder die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Du zu vermeiden. Darin sehe ich eine Ähnlichkeit zwischen der heutigen Zeit und dem Libertinismus des 18 Jh. Es ist erstaunlich, dass sich in Bezug auf diese Angst vor der emotionellen Verletzung seit Jahrhunderten so wenig in unserer Kultur verändert hat.

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Radierung aus dem 1750, Sammlung: Hans-Jürgen Döpp

Gleichzeitig scheint mir die erotische Kultur des Rokokos sich durch mindestens zwei Elemente von der modernen Promiskuität zu unterscheiden. Zum einen zeigt sie grössere Fantasie und Ästhetik in der Gestaltung der luststeigernden Rituale – es werden alle Sinne mit einbezogen und es fehlt nicht an Rollenspielen und raffinierten theatralischen Szenarien – zum anderen spielen sich die Rituale im Kreise sich kennender Menschen, die der gleichen Gesellschaftsschicht – dem Adel – angehören. Promiskuität dürfte in diesem Fall ihre ursprüngliche Bedeutung feiern, die sie noch in der neolithischen Zeit hatte – die Stärkung der Zusammengehörigkeit. Mit diesem Aspekt sich heute anzufreunden, dürfte eine schwierigere Herausforderung sein, als die Gefühle und dem Trieb zu trennen.

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Emile Wattier, Das kleine Abendmahl des Regenten

Die Zeit der Aufklärung brachte auch eine intensive medizinische Auseinandersetzung mit den gesundheitlichen Aspekten der Sexualität, deren Echo wir in den zwei letzten Briefen hören. Die Wichtigkeit der sexuellen Erfüllung der Frau wird anerkannt und es wird ihr oft das grössere erotische Potential zugesprochen. Grund dafür sollte die Beschaffung der Organe sein, welche keine natürliche Grenze darstellt. Obwohl in Ansätzen fortschrittlich, zeugt der Diskurs noch immer von einer vorherrschenden Furcht vor der weiblichen Sexualität und generell vor Sinnlichkeit. Der Konflikt zwischen den Folgen der übermässigen Lust auf der einen Seite und der Enthaltsamkeit auf der anderen, wurde von den Medizinern dadurch gelöst, dass sie die Sinnlichkeit in die Schranken der Ehe verwiesen. (2)

 

Literaturnachweis:

1,2)« Paradies im Boudoir – Glanz und Elend der erotischen Libertinage im Zeitalter der Aufklärung » – Peter Prange, Marburg 1990
Bei der Lesung vom 14. Januar wurden ausserdem Fragmente aus folgenden Büchern berücksichtigt:

«Fanny Hill, Erlebnisse eines Freudenmädchens. John Cleland, 1749
« Gefährliche Liebschaften – Frankreich zu Zeiten der Libertins « Jacqueline Queneau, Jean-Yves Patte, 2002
« Correspondance de Madame Gourdan «, Anonym (Madame Gourdan, dite La Comtesse)

 

 

 

 

 

 

Bange Wollust und zarte Kühnheit – Gedichte von Susanne Popp und Bilder von Ewald Vorberg

Susanne Popp

zwischen deinen Lippen

ich habe mich verloren

zwischen deinen lippen

liegt mein name

warte auf ein wort

oder auf einen hauch

den luftzug

beim atem holen

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„Flora“ – Bild Ewald Vorberg

Anlässlich des letzten Salons schenkte mir Susanne Popp ihren Gedichtband „Faserzeit“. Ich fand Gefallen an den Versen, die mit wenigen Worten alle die flüchtigen Empfindungen formulieren, die zwischen Verschmelzung und Abschied zweier Liebenden liegen. Momente intimer Verzauberung mischen sich mit dem Staunen angesichts der Grenzen des eigenen Körpers und den Grenzen des Du. Der andere gehört uns nur für kurze Augenblicke und Abschied oder emotionelle Distanz lässt uns in Schmerz versinken. Die Gedichte sind eine subtile Beschwörung der Sinnlichkeit und der Sehnsucht nach Nähe, die das Wesentliche im Schweigen mitteilen. Ähnlich wie die Bilder meines befreundeten Fotografen, Ewald Vorberg. Die Schatten-Spiele verhüllen stets den entspannt ruhenden weiblichen Körper. Die vom Künstler gewählte Betrachtungs-Perspektive lässt uns glauben einem Moment beizuwohnen, in dem eine Frau sich ihrer eigenen Träumerei hingibt und ihre Intimität unbewusst oder nur beiläufig preisgibt. Die körnigen und diffusen Strukturen der Bilder, die auf besondere Aufnahme-Techniken zurückzuführen sind, verstärken noch das Gefühl der Entrückung. Auf diese Art entfaltet der Fotograf ein raffiniertes Spiel mit dem sinnlichen Begehren des Betrachters.

Contemplation

Susanne Popp

 

der dieb

du kammst und stahlst

mein herz nun weiss ich

nicht weiter

fühl`mich so taumelnd

sinkend liebestoll

ein bisschen haut und haar

wollt`ich dir lassen

das wär`mir einerlei

nur nahmst du mehr

das ist jetzt eine weile her

und ich hab dich schon

ein paar stunden lieb

dabei bist du

so dünkt es mich beinah

– verzeih` – nur ein

gewohnheitsdieb

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Susanne Popp

Ich will heimatlos sein

ich will heimatlos sein

um dich zu lieben

das bewohnte abstreifen

die grünen äpfel

die mir meine mutter gab:

ich werfe damit nach den spatzen

das wohlige schläfert nur ein

ich streife die decke ab

hänge federkissen aus dem fenster

eine beschneite welt ist mir lieber

um deine wärme zu spüren

Das Gedichtband kann direkt bei der Autorin bestellt werden: http://www.biografienwerksatt.de. Bilder von Ewald Vorberg sind zu sehen und zu bestellen unter: http://www.ewaldvorberg.de

Liebe als Basis des Urvertrauens – Arno Gruen über Empathie.

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In der gegenwärtigen politischen Situation erscheint es als Luxus, sich intellektuell mit Liebe und Eros zu befassen. Andererseits sehe ich – ähnlich wie der Psychoanalytiker Arno Gruen / Grün  – gerade in der Liebe die Kraft – vorausgesetzt, dass sie einem Menschen genug früh im Leben geschenkt wird – die spätere usurpatorische Machtansprüche verhindern kann. Die Reflexion darüber scheint mir aktueller denn je zu sein und ich möchte Sie gern auf die Werke von Arno Gruen aufmerksam machen.

Zudem bin ich überzeugt, dass unsere Liebeskraft einen grossen Einfluss auf unseren nahen Umkreis hat und ein Wandel im privaten Bereich auch den öffentlichen Raum nachhaltig zu beeinflussen vermag.

„Die Fähigkeit, empathisch die Welt zu erleben, ist die Fähigkeit, in der Wirklichkeit zu leben. Je mehr wir von der Empathie getrennt sind, desto weniger ist es möglich, im Leben zu stehen, die Bedürfnisse der Anderen und der uns umgebenden Welt wahrzunehmen und angemessen darauf zu einzugehen. Was die Empathie zerstört, nämlich die Nicht-Achtung der Bedürfnisse und Wahrnehmungen des Kindes, ist auch das, was die tiefsten Unsicherheiten entstehen lässt, die dazu führen, das der Mensch anfängt, nach einer absoluten Sicherheit zu jagen, die das Urvertrauen, das wir als neugeborene verloren haben, ersetzen soll. Und dies wird zur Quelle eines Machtstrebens, einer Jagd nach Grösse, Herrschaft, besitz, um dem Albtraum unterzugehen oder zu versagen, zu entkommen.“

Link zum Gespräch mit Arno Gruen über Empathie als Grundlage des menschlichen Zusammenlebens finden Sie hier.

Ansprache und Literaturliste 29. Oktober 2016

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„…In der letzten Zeit empfinde ich immer stärker  eine Sorge um das Schicksal der Leidenschaft. Ich möchte jetzt  kurz schildern worauf diese Besorgnis beruht. Die Gründe sind psychologischer und gesellschaftlicher Natur.

In der Psychologie beobachte ich folgende beunruhigende Phänomene:

  1. Autonomie und Unabhängigkeit werden in Definitionen der gesunden Psyche favorisiert. Die menschliche Entwicklung wird als ein linearer Prozess definiert, in dem wir uns aus kindlicher Abhängigkeit zu reifer Unabhängigkeit entfalten – Sein selbst mit dem eines anderen zu verschmelzen, verletzlich zu sein oder gar sich jemandem zu unterwerfen gilt somit schnell als Anzeichen einer emotionalen Pathologie.
  1. Die Fähigkeit die eigenen Interessen in Beziehungen zu wahren ist zum Synonym für psychische Gesundheit geworden. Deshalb wird eine unerwiderte oder unmögliche Liebe, die Schmerz bereitet, als Irrtum Eva Illouz sagt dazu ironisch: „Gut zu lieben, heisst heute, seinen eigenen Interessen gemäss zu lieben“.
  1. Die von der Psychoanalyse und dynamischen Psychologie ausgehende Überzeugung, dass Liebe lediglich eine Reinszenierung frühkindlicher Dramen ist, beraubt sie ihres kulturellen Status einer mystischen Kraft. Damit geht ihre Unbeschreiblichkeit und ihr Geheimnis verloren. Die Liebe wird zum Gegenstand endloser Selbsterkenntnis, Selbstprüfung und zur Goldgrube für Psychotherapeuten (Seelenklempner).
  1. Persönlichkeiten werden durch ein Bündel fester Attribute erfasst und es wird angenommen, dass bei einer Übereinstimmung bestimmter Attribute die Wahrscheinlichkeit von Liebe steigt und das Risiko einer Enttäuschung sinkt. Damit wird Liebe zum Gegenstand der Metrik. Beweise dafür sind die Partnersuche-Plattformen und Bücher wie „Die Mathematik der Liebe“ Hannah Frey, „Die vier Typen der Liebe“ Helen Fisher.
  2. Zudem empfinde ich ein grosses Unbehagen gegenüber einer zunehmenden Kultur, die die Entstehung von Gefühlen der Nähe und Bindung bei sexuellen Begegnungen vermeidet und dies als erstrebenswert anpreist. (Pick up Communities).

Zusammenfassend:

Ich sehe heute einen psychologischen und sexuellen Utilitarismus, der stets auf ein Maximum von Genuss und Wohlbefinden aus ist. Gleichzeitig sehne ich mich nach Menschen, die fühlten wie Felix in Balsac`s „Lilie im Tal“ der behauptet, „Ohne Hoffnung zu lieben ist immer noch ein Glück“ oder Erich Maria Remarque in seinem Brief an Marlene Dietrich, den uns Mark heute vorlesen wird: „Es ist nicht auszuhalten und wunderbar!“

Wo ist diese Art des Liebens geblieben? Gibt es sie noch – die verzauberte Liebe die Schmerz erträgt – die „verzauberte“ Liebe? Jene Liebe, die das selbst in seiner Ganzheit einbezieht, mobilisiert und überwältigt soll Thema des heutigen Abends sein.

Ich habe mir bei der Auswahl der Texte die Frage gestellt, die ich gerne kurz in diese Runde einbringen möchte:

Welches sind die wichtigsten Aspekte oder Kennzeichen der verzauberten/ leidenschaftlichen Liebe?

 Ich definiere sie nach Ortega y Gasset und nach Eva Illouz wie folgt:

  • Heiligkeit des Objekts – der Geliebte/die Geliebte wird auf ein Podest gestellt und als göttliche Gestalt gesehen…dies werden wir heute vor allem in den Briefen von Erich Maria Remarque erleben
  • Irrationalität – Unmöglichkeit die Liebe zu begründen oder zu erklären, oder sich ihr zu entziehen – Julia wird uns in den Briefen der Ninon eine Reflexion der Saloniere aus dem 18 Jh vorbringen – „Das Verdienst der geliebten Person ist nur ein Scheingrund, nie eine Ursache der Liebe“
  • Überwältigung – Eine Erfahrung, die die ganze Realität des liebenden ergreift – Annais Nin und Henry Miller sind hier die besten Beispiele
  • Verschmelzung – keine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt – Remarque der behauptet sein ganzes Leben, wie eine Pyramide auf das Herz der Marlene Dietrich gestellt zu haben…
  • Preisgabe des Eigeninteresses – Remarque: „es ist doch mein Glück, dass Du mich brauchst“
  • Abwesenheit von Autonomie (Remarque – „ich bin dir treu und es fehlt mir nicht einmal schwer“, Henry Miller – „ich würde dich gern betrügen aber ich kann nicht“)

Literaturliste zum Salon der Phlosophie des Eros vom 29.10. 2016

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Aus folgenden Bücher wurde vorgelesen:

Briefe der Leidenschaft. Anais Nin Henry Miller, Scherzverlag 1989

Henry, June und ich. Ein intimes Tagebuch. – Anais Nin, Scherzverlag 1987

‚Sag mir, dass Du mich liebst…’Zeugnisse einer Leidenschaft – Marlene Dietrich, Erich-Maria Remarque, Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2001

Briefe der Ninon de Lenclos. – Ninon de Lenclos, Insel Verlag 1989

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Bücher und Interviews, die mich zu vertiefter Reflexion über “Liebe als Reichtum und süsse Last“ veranlassten und die in meine Ansprache eingeflossen sind:

Warum Liebe weh tut. – Eva Illouz, Surkamp 2016

Ware Liebe und wahre Liebe – Eva Illouz im Gespräch mit Barbara Bleisch, 2.6.2013, SFR, Strenstunde Philosophie

A General Theory of Love. – Thomas Lewis, Fari Amini, Richard Lannon, Vintage 2001

Liebesbriefe grosser Männer. – Sabine Anders, Katharina Maier, Marix Verlag

Liebesbriefe grosser Frauen. – Sabine Anders, Katharina Maier, Marix Verlag

Briefe 1925-1975. – Hannah Arendt, Martin Heidegger, Klostermann 2013

Feuer – Die unzensierten Pariser Tagebücher. – Anais Nin, Scherz 1995

Liebe und Wille. – Rollo May, EHP 2015

Bonding Psychotherapie. – Konrad Stauss Tradition, Hamburg 2015

Über die Liebe. – Jose Ortega y  Gasset, Deutsche Verlags-Anstalt 1933

Bericht der Salon-Diskussion finden Sie hier.

 

Salon vom 29. Oktober – Impressionen eines Gastes

Salongespräche bei und mit Beata Sievi / Samstag, 29. Oktober 2016 / 17 Uhr
Da sitzen wir in der Salon-Stube von Beata Sievi an der Neuwiesenstrasse. Rings um uns Bücher, Nahrung für Geist, Seele und Gemüt. Sie beflügeln uns, regen an und ihr Atem lässt die Stille wachsen.
Das Thema an diesem Abend: „Liebe . . .“ Da tauchen wir ein in die physische und psychische Welt von Anziehung und Abstossung, diesem spannungsgeladenen Hin und Her. Da wirken Kraftfelder, Magneten gleich, aufgeladen von Mikro- und Makrokosmos und von körpereigenen Hormonen. Was für ein Kräftespiel himmlischer und oft sehr irdischer Anziehungskräfte!
Die Briefe von Ninon de Lenclos, Anaïs Nin+Henry Miller und von Erich Maria Remarque entfachen Diskussionen, lassen uns Meinungen hören, die uns ermöglichen, die Gedankenfäden weiter zu spinnen, Neues zu fühlen und zu spüren. Ist die Liebe nicht das gesellschaftliche Perpetuum mobile, der Hass, ihr Schatten und Gegenspieler auf allen Ebenen?
Weiss- und Rotwein erfreuen uns, dazu Salziges, feingebackene Früchteschnitten „maison“, dazu Tee und Kaffee. Vielfältige Stimmen beflügeln das Mitdenken, wecken unterschwellige Gefühle und Emotionen, gewürzt von persönlichen Erinnerungen.
Wir spüren Remarques Spitze der Pyramide auf dem Herzen lasten, erdrückende Gewichte für Augenblicke und wir werden der weisen Erkenntnis gewahr, dass in Liebesdingen die Frau massgebend ist, zauberhaft bewiesen und beschrieben von Ninon de Lenclos, dieser ungewöhnlich geistreichen Frau zur Zeit Ludwigs XIV. Was für eine erfahrene, top aktuelle Lehrmeisterin der Liebeswege! Da lauscht ihr der Mann von heute mit wachsendem Vergnügen: Seine Ich-Bezogenheit bröckelt und er wagt es, sich schrittweise dem Mysterium der Liebe zu nähern, dem Mitgefühl und dem, was das Leben ohne Selbst-Täuschung lebenswert macht. Der Eroberer in ihm mässigt sich und sein rivalisierendes Röhren bekommt Zwischentöne. So erlebt er die Gefühle sozusagen neu als Freundinnen, Emotionen als Kostbarkeiten und Tränen als erlösende Manifestation des Unsagbaren.
Herzlichen Dank an alle: an Juliea Knapp und Mark Schneider, die beiden begabten Brief-Boten, die so engagiert die Blätter der Liebe entfaltet, vergangene und zukünftige Leidenschaften geweckt haben. Ein besonderes Dankeschön unserer Gastgeberin Beata, die das Schifflein der Moderation so klug gesteuert hat.
Und wir freuen uns auf die nächste Salon-Runde am Samstag, 14. Januar 2017.
Beda Victor

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